Du ist ein anderer          
    Du ist ein anderer, und ich sitze auf meinem keineswegs neu erworbenen Stuhl, die Nase fest gegen die Wand gedrückt.

Der Stuhl ist rot. Und er gehörte früher einmal zu einer Schaufensterdekoration. Ausser dem roten Stuhl, der jetzt mir gehört, standen dort, in dem Schaufenster, auch noch rote Hosen und rote Hemden herum. Rote Strümpfe. Rote Hüte. Und rote Handschuhe. Rot steht mir nicht. Mein Gesicht verschwindet, wenn ich mir einen roten Hut aufsetze. Und mein Körper schmilzt in roten Kleidern. Rote Handschuhe lähmen meine Hände und ein roter Strumpf lässt meinen Fuss verkohlen.

Weil Du ein anderer ist, oder ein anderer sein muss, weil du immer etwas anderes sein musst, es muss so sein, habe ich - natürlich - das mit den roten Kleidern ausprobiert. Und - natürlich - geschah es dann genau so, wie ich mir das schon vorher gedacht hatte. Ich - huch - war weg - ganz plötzlich. Und ich habe zuerst gedacht, dass das so gekommen war, weil du etwas anderes bist. Und ich habe mich mal wieder gefragt, was ich sein kann, wenn du etwas anderes bist. Aber was passiert mit mir, wenn Du ein anderer ist? Wenn der andere von Dir besetzt wird? Ich muss jetzt ein anderer als das andere sein. Weil das Ich für mich noch nie in Frage kam. Weil Ich ja du ist. Ich muss jetzt ein anderer als der andere meiner Vorstellung sein. Weil ich Du geworden bin. Zu schnell, um zu wissen, wie dämlich das ist. Zu dämlich, um zu wissen, dass es dämlich werden könnte. Nicht nur dämlich, sondern so wohlbekannt dämlich.

Der rote Stuhl, auf dem ich jetzt sitze, weil er jetzt mir gehört, ist ein Drehstuhl. Früher war er das nicht. Da stand er bewegungslos, immer in eine Richtung schauend. Es gab keine andere Richtung ausser der einen, in die der Stuhl schaute.

Seine Augen waren rot und warfen einen roten Schein, einem fliessenden Teppich gleich. Bis zu den Knien stand ich in der Teppichsuppe, aber erst als ich heraussteigen wollte, merkte ich, dass die Suppe dick und zähflüssig war. Dass sie mich nicht gehen liess, obwohl sich die Richtung geändert hatte. Und die Worte, die Ich sagte, obwohl mir ganz andere einfielen, plumpsten, ohne einen Weg zu nehmen, wie abgeknallte Tontauben in die Suppe hinein. Ihre Spritzer, die in Gegenrichtung heraufschossen, fingerten an Meiner Stirn herum. Sie suchten etwas. Etwas ganz bestimmtes. Und obwohl es ganz gross und deutlich auf meiner Stirn stand, fanden sie es nicht. Gross und deutlich. Hier. Dort, wohin mein Finger zeigt. Aber natürlich zeigte er nicht auf meine, sondern auf Deine Stirn. Weil ich ja schon Du geworden war. Und natürlich zeigte er ins Leere. Weil Du ein anderer geworden war und natürlich plötzlich anderswo stand.

Blank ist heute meine Stirn. Nichts verbirgt das, was darunter ist. Ein Aquarium ist meine Stirn. Die Fische darin haben frisch gelaicht. Und wenn eines Tages die Jungen geschlüpft und gross geworden sein werden, dann wird es die Scheibe zerrissen sein. Die Haut meiner Stirn. Denn sie werden mehr Platz brauchen, die gross gewordenen Fische.

Ich sitze auf meinem neu erworbenen Stuhl, die Nase fest gegen die Wand gedrückt, und spüre, dass es bald so weit sein wird. Noch einmal wird mir das Gesicht nass werden. Stirn und Nase bilden schon eine Linie, so prall ist die Wölbung meiner Stirn bereits. Aber in mir ist noch nichts so weit, als dass ich das wirklich, wirklich, wirklich begreifen könnte. Und deshalb drücke ich die Nase so fest gegen die Wand. Den Kopf leicht nach hinten gelegt.

Ich sitze auf dem roten Stuhl und kann jetzt von unten Meine Stirn betrachten. Dort wird ein Film gezeigt, den jeder schon einmal gesehen hat. Die Fische werden durch die Leinwand platzen. An irgendeiner Stelle des Films. Der Zeitpunkt bestimmt, was zerrissen werden wird. Es könnte eine Landschaft sein. Es könnte auch ein Haus sein. Oder eine Person. Es könnte ein für allemal Ich sein. Es könntest auch du sein, weil das keinen Unterschied macht. Weil Ich ja du ist. Du aber ist in Sicherheit, weil ein anderer und anderswo. Nicht mehr in diesem Film. Denn in dem Film bist Du noch du und ich bin Du und du und ich und du und du und ich. So dämlich hört sich der Film an. Nicht nur dämlich, sondern so wohlbekannt dämlich. So typisch dämlich, so typisch von mir geschrieben. So geschrieben, wie es jeder schreiben könnte. Wie es jeder schon einmal geschrieben hat.

Wenn der Film an einer Stelle unscharf wird, dann liegt das nicht an meiner Trauer. Er wird immer an einer Stelle unscharf. Und vielleicht wird er niemals aufhören, der Film. Auch wenn die Suppe schon den Hals erreicht hat? Und das Zimmer bereits überschwemmt ist? Und der Stuhl so langsam nach hinten umkippt?

Das weiss ich nicht. Und du weisst es nicht. Aber ich weiss, dass der Stuhl auf der Suppe immer obenauf schwimmt. Das liegt in der Natur des Stuhls. Es ist ganz natürlich so.