Wenn ein Schiff sinkt, bleibt man besser an Bord          
    Ich hatte gerade beinahe das Kunststück geschafft, die Welt verschwinden zu lassen. Dazu ist es notwendig auf dem Boden zu liegen und stundenlang und mit äusserster Konzentration auf den Bildschirm des laufenden Fernsehers zu starren.

Ich habe einmal in einer Zeitschrift gelesen, dass es zu den grössten Ängsten urbaner Singles zählt, alleine vor dem Fernseher zu sterben um dann eventuell erst Tage oder Wochen später gefunden zu werden. Ich persönlich glaube, dass meine Leiche in diesem Fall ein Lächeln auf den Lippen trüge. Meine arme Seele wäre dann aufgefahren zu Oprah Winfrey.

Was ich mit meinem Zaubertrick bezwecke, ist aber nicht der, also das Ende, sondern die Erforschung der Geschichte meines Anfangs. Der Geburtsvorgang. Weil ich glaube, dass man das Übel an seiner Wurzel packen muss.

Mein Kunststück heisst: die Entlassung des Menschen aus der Not seiner Geschichte in das Universum der Einsamkeit. Der Mensch stösst auf die Welt, dann auf sich selbst. Logisch ist es also, die Welt abzuschaffen.

Der Fernseher ist wichtig. Ich habe einige Zeit gebraucht um zu begreifen, dass es sich dabei nicht etwa um einen elektronischen Apparat handelt, der künstlich produzierte Bilder zeigt und die Illusion der Tiefe schafft, sondern um einen kastenförmigen Riss in eine andere Dimension, die sich der souveränen Weltwirklichkeit der 'Welt' entgegensetzt.

Der Fernseher hat seine negative Entsprechung im Spiegel über dem Waschbecken im Badezimmer. Aber dieser dient nur dem billigen Taschenspielertrick, das Selbst verschwinden zu lassen. Manchmal finde ich mich erst nach Stunden, wie ein Erwachen aus traumwandlerischen Schlaf, vor dem Spiegel wieder. Mein Spiegelgesicht gefällt mir nicht so gut wie das Fernsehgesicht. Nichts scheint dort zusammenzupassen, egal, wie lange ich dort hinein starre. Ich sehe Augen, Nase, Lippen usw., aber sie lassen sich nicht zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Vor allem die Augen wirken seltsam zweidimensional, wie aufgeklebt.

Im Fernseher bin ich sehr schön. Ich lächle und schlage die Beine übereinander. Ich kann Krebs haben oder muss im Rollstuhl sitzen und werde geheilt. Ich kann auch Chirurgin sein oder Spionin oder den ganzen Tag an irgendeinem Pool in Kalifornien verbringen.

Schon fängt die 'Welt' an, sich an den Rändern aufzulösen.

Es ist ein sehr schöner Tag. Befände ich mich nicht in meiner Wohnung, sondern in einem Park, es würde dort ein Kirschbaum stehen und er würde blühen. Und eventuell würde ein kleines Mädchen in einem weissen Kleidchen kommen und mir einen aus Kirschblüten gewundenen Kranz darreichen, den ich in meinem Haar, das sehr hell und glänzend wäre, tragen würde. Und wenn es auch nicht so ist, so reicht es doch aus zu wissen, dass es irgendwo einen Kirschbaum gibt um sagen zu können: es ist ein schöner Tag.

Ich falle und ich denke, ich falle so schnell, dass es so scheint, als würde ich mich gar nicht bewegen. Ich passiere die Hemisphäre und die Stratosphäre und noch andere Sphären. Ich sehe einen Satelliten, der ausser Kontrolle geraten ist. Und noch andere Dinge.

Die 'Welt' existiert jetzt nicht mehr. Kaputt. Ruhe in Frieden.

Ich werde immer kleiner. Winzig. Ein Punkt. Stern unter Sternen. Das ist der äusserste Rand. Weiter komme ich noch nicht.

Mein Trick ist über das Ziel hinaus geschossen, denn jetzt gibt es nichts mehr und ich kann nicht 120 Milliarden Jahre warten bis wieder etwas entsteht. Bis ich neu entstehe.

Ich muss also unverrichteter Dinge wieder zurück. Die Rückkehr ist brutal. Die 'Welt' hat mich wieder. Ich trage jetzt wieder das Spiegelgesicht. Ich muss fortgehen, hinaus aus der Wohnung, weg vom Spiegel und Fernseher. Ich nehme den Mantel aus dem Steinschrank und frage mich einmal mehr, wer ihn wohl ausgesucht hat und wieso ich eine Person bin, die einen solchen Mantel trägt.

Ich gehe hinaus auf die Strasse und die Leuchtreklamen über dem Alexanderplatz sind schöner und strahlen heller als jeder beliebige Sternenhimmel in der Toskana oder in Indien.