200 Meter          
    Eigentlich wollte er nur ins Kino. Er wollte immer nur ins Kino, wenn er diesen Weg ging. Es waren nur knapp 200 Meter. 200 Meter von dort, wo er aus dem Auto stieg, das ihn den grössten Teil des Weges bis eben an diese Stelle gebracht hatte, bis zum Sitz in der fünften Reihe, in dem er dann gewöhnlich auf den Beginn des Films wartete. 200 Meter sind genau 200 Meter lang. Dachte er solange, bis er bemerkte, dass er wegen der 200 Meter eine Stunde früher als üblich für eine solche Strecke los musste. Es waren nicht die Fahrstrecke und nicht das Kino. Es waren nur diese 200 Meter, die genau eine Stunde Zeit beanspruchten. Dabei waren es nicht einmal besondere 200 Meter. Er war sich nicht sicher, ob sie direkt vor der Drehtüre begannen, oder erst danach. Durch die Drehtüre betrat er den Wald. Einen hübschen kleinen Wald aus Laubbäumen, deren Blätter immer grün in der Abendsonne leuchteten. Ein freundliches Grün in einer freundlichen Abendsonne. Der Weg durch den Wald war gepflastert und immer frisch gekehrt, was ihm aber nicht auffiel, bis er einmal meinte, ein Eichhörnchen gesehen zu haben und bis zum Marktplatz darüber nachdenken musste, wo das Eichhörnchen wohl seine Nüsse vergräbt. Er dachte manchmal beim Geräusch seiner Schuhe auf dem Pflaster an das Eichhörnchen, sah es aber nie wieder und hatte es regelmässig, wenn er am Marktplatz ankam, wieder vergessen. Der Marktplatz ludt auch nicht dazu ein, schweren Gedanken nachzuhängen, so hell wie er im Licht des späten Vormittags erschien. Alles wurde leicht hier zwischen den Buden, Verkaufsständen und dem Brunnen in der Mitte, der für sein Alter noch erstaunlich lebendig Wasser in das grosse eiserne Becken sprudeln liess. Das ihm eher besinnlich erscheinende Zwitschern der Vögel im Wald war auch den fröhlichen Geräuschen spielender Kinder gewichen. Manchmal bekam er hier Lust auf ein spätes Frühstück, auf frische Brötchen, Marmelade und Obst, aber er wollte ins Kino, und von einem Film darf keine Minute einem Frühstück geopfert werden. Lieber beeilte er sich das letzte Stück noch und ging schnell durch die enge belebte Gasse mit den kleinen Läden hinter winzigen Schaufenstern, die kaum einen Blick nach innen zuliessen, aber ihre Türen einladend offen hielten. Der anschliessende grosse Platz wurde dann, egal wie sehr er sich beeilt hatte, schon von einer abendlichen Kühle beherrscht, über die auch der Seiltänzer mit nacktem Oberkörper nicht hinwegtäuschen konnte. Rechts wurde der Platz von einer Mauer begrenzt. In ihren langen Schatten tummelten sich Jongleure und Feuerspucker und er konnte noch beim Betreten der irischen Kneipe den verbrannten Spiritus der Fackeln riechen. Er musste durch die Kneipe hindurch und durch das direkt dahinter gelegene Restaurant. Mehrfach hatte er erfolglos versucht, einen Weg aussen herum zu finden und seit er beobachtet hatte, dass alle anderen Leute auch einfach hindurch gingen, versuchte er, darüber auch nicht mehr erstaunt zu sein. Er wunderte sich auch nicht mehr über den Ausblick auf das Gebirge aus dem Restaurant, es hiess schliesslich Alpenblick, nur die Sonne, die hinter dem höchsten Gipfel hervorlugte, verwirrte ihn immer noch, zu sehr war er noch in der Abendstimmung der irischen Kneipe. Und wer geht schon nachmittags bei bestem Wetter ins Kino, vor allem wenn der Film erst um neun beginnen soll? Wahrscheinlich stand er deshalb jedesmal im Aufzug ohne zu bemerken, dass er in kürzester Zeit drei Stockwerke, das Tauchparadies einer tropischen Insel und den allerdings schon leicht angeschmolzenen Schneemann vor der Snowboardschanze passierte. Es wurde auch nicht heiss oder kalt im Aufzug, nur die Leute aussen liefen entweder in Badehosen herum oder rieben sich ein wenig die Hände zum Aufwärmen. Erst als der Aufzug ruckartig anhielt - er tat es nur bei diesem Halt - nahm er wieder wahr, was um ihn herum vorging. Hier war es dann wie gewöhnlich höchste Zeit, sich endlich zu beeilen, sich durch die schlangestehenden Musicalbesucher hindurchzudrängeln, die Merchandise-Stände zu umrunden, um endlich das Kino zu erreichen. Während er noch an der Kasse anstand, dachte er jedesmal daran, nach dem Film den gleichen Weg zurückzugehen. Die 200 Meter, die nach dem Film auch noch 200 Meter waren, ihn aber einen anderen Weg gehen liessen. Er versuchte es oft, aber es gelang ihm nie. Es war Nacht, als er aus dem Kino kam und 200 Meter waren 200 Meter, 5 Minuten bis zum Auto. Immer.