Die 17 Erinnerungen der Frau G. -          
    - oder: wer sagt eigentlich, dass immer alles so schrecklich sein muss?


1. Matratze:
die Matratze wurde am 28. Mai 1998 morgens um 9 Uhr geliefert. Ich hatte Bedenken, dass die Matratzenträger mich nicht finden würden, da mein Name damals nicht an der Klingel stehen durfte. Hinzu kam, dass der Liefertermin auf 7 Uhr angekündigt gewesen war. Nach zwei Stunden angstvollen Wartens öffnete ich erleichtert die Tür, als es um 9 Uhr endlich klingelte. Man hatte den Trägern gesagt, dass sie bei G. läuten müssten. Die Matratze war zu schwer, als dass ich sie in mein Bett hieven konnte, weshalb sie lange Zeit unmotiviert in meinem Zimmer herumstand.

2. Hochbett:
dass es sich auf einem Hochbett schlecht schläft, habe ich am 21. September 1998 festgestellt. Am 22. September 1998 verbrachte ich den ganzen Tag damit, die Matratze, die sehr schwer ist, aus dem Hochbett zu hieven. Jetzt liegt sie in dem kleineren Zimmer meiner Wohnung, und meine Mutter meint, dass das schlecht sei, weil eine Matratze ohne Bett Schimmel ansetzen könnte.

3. Namensschild:
ich habe etwa zwanzigmal versucht, mein Namensschild sowohl am Briefkasten als auch an der Türklingel anzubringen. Immer wieder ist es von dort entfernt worden. Das erste Mal geschah dies am 19. Mai 1998. Jetzt versuche ich mich mit meinem neuen Namen G. abzufinden und verbringe mehr und mehr Zeit auf meiner Matratze, auf der ich leider noch immer meinem alten Namen D. nachtrauere. Seit dem kommen keine Briefe mehr hier an.

4. Zittern:
von Zeit zu Zeit fange ich das Zittern an. Meinen ersten, heftigen Zitteranfall hatte ich am 15. Mai 1998, also kurz bevor mir zum ersten Mal das Namensschild sowohl vom Briefkasten als auch von der Türklingel fortgerissen worden war. Inwieweit diese beiden Ereignisse etwas miteinander zu tun haben, weiss ich nicht. Aber ich zittere heute besonders, wenn ich auf meiner Matratze meinem alten Namen D. nachtrauere. Denn das kleinere Zimmer meiner Wohnung, in dem ja die Matratze liegt, wird im Winter nicht beheizt. Insofern ist es ganz natürlich, dass ich auf meiner Matratze zittere, und sie von unten zu schimmeln anfängt.

5. Bäcker:
in den Bäcker gegenüber meiner Wohnung gehe ich nicht mehr. Früher habe ich mir dort morgens immer Brötchen gekauft, später dann Hörnchen. Die Brötchen kaufte ich mir vor allem, als ich noch arbeiten gegangen bin und ein Vesper mitnehmen musste. Sie lassen sich besser mit Käse belegen als Hörnchen. Die Hörnchen kamen erst mit der Aufnahme von Heimarbeit auf. Als ich viel in meiner Wohnung war. Als meine Matratze schon längst zu schimmeln angefangen hatte, und ich allmählich Frau G. zu heissen begann. G. steht für 'grande gusto', und ich verbinde damit etwas frankophiles.

6. Die Montagskneipe:
das mit der Montagskneipe fing am 20. April 1998 an. Bei diesem ersten Besuch bekam ich alle Getränke umsonst. Bei meinem zweiten Besuch brauchte ich für den Weg fast zwei Stunden, und viele Passanten haben mich gegrüsst. Das erste Mal bin ich mit dem Auto dort hingefahren, weshalb es schneller ging, und niemand grüsste. In der Montagskneipe war ich zum letzten Mal am 10. Oktober 1998. Zwei Bekannte hatten mich damals versetzt, weshalb ich mich mit einem amerikanischen Lehrer aus Kalifornien unterhielt, der erst seit kurzem hier in Deutschland war.

7. Mein e-mail-account:
wurde am 19. Mai 1998 eingerichtet. Am 20. Mai 1998 erhielt ich meinen ersten elektronischen Brief. Er war von Herrn Thomas G. Damals konnte ich selbst noch keine Briefe verschicken, weil etwas mit den Voreinstellungen nicht stimmte. Herr Thomas G. war es schliesslich, der am 25. Mai 1998 die notwendigen Änderungen vornahm. Seit dem habe ich 164 elektronische Briefe verschickt und etwa 150 elektronische Briefe erhalten. Ich habe also rund 15 elektronische Briefe mehr verschickt, als ich erhalten habe. So ist das immer. Immer tue ich mehr, als ich tun muss.

8. Holzschrank:
über den Holzschrank rege ich mich auf, seit ich hier wohne. Er sieht so hässlich aus, und ich kann nichts dagegen tun. Ich würde ihn am liebsten anmacken, kleinhacken, einpacken und dann draufkacken. Aber er gehört nicht mir, sondern Herrn G., der ihn als sein Gesellenstück verehrt. Herr G., dem auch das Hochbett gehört, hat mir erzählt, dass er an dem Fenster, von wo aus man immerzu auf den Bäcker schauen muss, seine Doktorarbeit geschrieben hat. Er hat dabei einen verklärten Gesichtsausdruck bekommen, und ich dachte: 'So, so. Doktor sein, und dann von einer armen Heimarbeiterin die doppelte Miete abzocken.' Herrn G. habe ich erschossen und ihn erst in seinen verschissenen Schrank, dann unter meine Matratze gepackt. Von meinem Zittern wird er durchgerüttelt, und das führt immer dazu, dass es im Zimmer ganz schrecklich zu stinken anfängt, weshalb ich nicht heizen will, weil es sonst noch mehr stinken würde. Vor dem Holzschrank habe ich einmal ein dummes Spiel gespielt, das ich nie mehr spielen wollte, und es dann doch wieder und wieder und so oft und so intensiv und so echt tat, bis es kein Spiel mehr war. Ich spielte Weggehen.

9. Der Abfalleimer:
seit ich hier wohne, wurde der Abfalleimer zweimal über einen Zeitraum von zwei Wochen nicht hinuntergetragen. Das erste Mal geschah das am 19. Juli 1998, das zweite Mal am 23. November 1998. Was soll ich dazu sagen?

10. Taxis:
zwischen dem Bäcker gegenüber meiner Wohnung, in den ich nicht mehr gehe, weil zwei gesagt haben, dass die Ware dort schlecht sei, und meiner Wohnung gibt es einen Taxistand. Die Taxis kommen, die Taxis gehen den ganzen Tag und die ganze Nacht. Seit einem dreiviertel Jahr jetzt. Trotzdem denke ich bei dem Geräusch der Taxis immer, dass jemand, der ein Auto fährt, zu mir kommt. Ein Prinz mit einer Tüte Brötchen, die mit Käse belegt sind, und in denen ein Fähnchen steckt, auf dem steht 'für D.'.

11. Rauchen:
seit ich so viel Heimarbeit betreibe, stinkt meine Wohnung nicht mehr nur aufgrund des verwesenden Herrn G.s, sondern auch weil ich entsetzlich viel zu Hause rauche. Ich stelle Schälchen mit Duftöl auf, um den Gestank abzuschwächen. Als ich neulich Besuch von Herrn Thomas W. aus S. bekam, sagte er, dass es hier so rieche wie bei seiner Oma. Später sagte er, dass es hier so rieche, wie bei seiner Mutter, wenn sie mit einem unglaublich scharfen Putzmittel die Wohnung gereinigt hätte. Was soll ich jetzt glauben?

12. Kehren:
ich kehre fast täglich meine Wohnung. Das ist wichtig, weil es hier sehr staubig ist, und weil ich einen Hang zum Fanatismus habe. Ich kehre vor allem Haare, Schuppen und Federn zusammen, weil ich Haarausfall, Schuppen und eine Bettdecke habe, die kaputt ist. Die Bettdecke habe ich mit einem Paketband zu kleben versucht. Meinen Haarausfall habe ich mit vielen Bürstenstrichen zu bekämpfen versucht. Meine Schuppen habe ich mit einem Schampoo zu vertreiben versucht. Mit nichts war ich erfolgreich. Deshalb habe ich jetzt morgens auf meinem Nicht-Brötchen und meinem Nicht-Hörnchen immer Haare, Schuppen und Federn. Das Kehren hilft also gar nichts.

13. Brillenputztücher:
von Frau Diana Weis habe ich den Tip bekommen, Brillenputztücher zu verwenden. Daraufhin habe ich eine Schachtel mit 25 Brillenputztücher zu einem Preis von 1,49 DM käuflich erworben. Aber ich habe immer Angst, dass die Schachtel eines Tages aufgebraucht sein könnte, weshalb ich erst zwei Brillenputztücher benutzt habe. Das Aufsparen der Brillenputztücher ist so anstrengend, dass ich nur noch mit Mühe meine Wohnung kehren kann. Eine geputzte Brille ist anstrengend, weil ich dann den hässlichen Schrank noch deutlicher sehen muss. Ein hässlicher Schrank ist anstrengend, weil ich weiss, wie schön ein Schrank sein könnte, wenn er nicht von Herrn G. stammen würde. Herr G. ist anstrengend, weil ich eigentlich nichts mit ihm zu tun haben will, und er trotzdem die ganze Zeit meine Wohnung verpestet. Eine verpestete Wohnung ist anstrengend, weil sie mich am Denken hindert und meinen alten Namen D. so weit weg erscheinen lässt. Mein alter Name D. war damals anders anstrengend, als es heute aufgesparte Brillenputztücher, eine geputzte Brille, ein hässlicher, nicht-schöner Schrank, ein nervender Herr G. und sein Gestank sind.

14. Meine Tassen:
liebe ich. Ich besitze sechs Tassen, die letzten beiden habe ich zu meinem 26. Geburtstag am 19. Juli 1998 von Frau Johnson geschenkt bekommen. Seit ich so viel zu Hause rauche, kommt es schon mal vor, dass ich in die Tassen schleimen muss. Am liebsten trinke ich Kräutertee aus den Tassen. Dabei stelle ich mir vor, dass ich krank war, und jetzt auf dem Weg der Besserung bin. Früher, zu Zeiten der Hörnchen, als alles noch so frankophil war, trank ich aus den Tassen natürlich immer einen starken Kaffee mit viel Milch. Der Kaffee floss aus meiner Espressomaschine direkt in die Tasse hinein. Die Milch wärmte ich in einem Topf. Die Tassen von Frau Johnson passten genau unter die Öffnung der Espressomaschine, aus der der heisse Kaffee floss. An den Tassen der Frau Johnson mit dem Kaffee aus der Espressomaschine habe ich mir täglich den Mund verbrannt, weil ich heissen Kaffee nicht gewöhnt bin. Denn Kräutertee fülle ich in eine Thermoskanne, damit er lange warm bleibt.

15. Musik:
eine Cassette zu finden, die ich gerne hören würde, wird immer schwieriger. Ich habe zu viel Musik gehört in der letzten Zeit. Zu oft zu Hause gesessen, zu viel geraucht, zu viel Tee getrunken und dabei immer viel zu viel Musik gehört. Zu oft musste ich pissen gehen und dabei mein einzig beheiztes Zimmer verlassen. Ich habe Musik gehört, kurz nachdem ich hier einzog. Die will ich jetzt nicht mehr hören. Ich habe Musik auf dem Weg zur Arbeit gehört. Die will ich jetzt nicht mehr hören. Ich habe Musik zum Frühstück bei Brötchen und kaltem Kaffe und zum Frühstück bei Hörnchen und heissem Kaffee gehört. Die will ich jetzt nicht mehr hören. Und ich habe Musik während meiner Heimarbeit gehört. Auch die will ich jetzt nicht mehr hören. Nie habe ich Musik auf meiner Matratze gehört. Die hätte ich jetzt gerne. Natürlich.

16. Lorna:
Lorna steht für alles, was ich verloren habe.

17. Aufzug:
das mit dem Aufzug scheint ebenfalls ums Eck zu sein. Ich finde das S nicht mehr, und muss mir etwas neues ausdenken.

18. Heute:
ist der 8. Dezember 1998.