Richards Sohn          
    Richards Sohn war schon weit weg gewesen. Ich griff nach seiner Hand, kalt und feucht, er war schon weit weg. Sein Gesicht lag im Schatten. Ich konnte seine Augen nicht mehr sehen. Ich beschloss, mich zu entfernen.

Das Geheimnis des automatischen Sterbens bestand darin, wieder aufzuwachen. Wie nach einem langen anstrengenden Schlaf. Der Probant begibt sich auf den Weg, und er muss das ganze Stück wieder zurück laufen, was das Schwierigste ist. Einem Waldspaziergang gleich. Bäume und grünes Licht drängen nach oben wie eine Kathedrale und begraben dich, saugen dich auf wie schlechte Luft und du willst nicht mehr weiter. Du weisst, du kannst bleiben, bei den sieben Gnomen auf den sieben Pilzen. Ein Hund wird dich leiten an den Eingang.

Es ist jedesmal eine schmerzhaft bewusste Entscheidung, umzukehren und den verletzbaren Rücken dem weichen Boden und den nassen Ästen zuzuwenden. Sobald du draussen bist, bist du aussen. Die Augen des Hundes, traurig und feucht, begleiten dich noch ganz nach draussen, wenn du schon wieder wach und in Bewegung bist.

Aber das wahrhaft Schandhafteste ist, denn es gibt nichts wirklich Schlimmes, nachdem du dort gewesen bist, nur Schande, das Schandhafteste ist, dass du es verloren hast. Dein Geschwister. Dein kleines Brüderchen oder Schwesterchen, das nah an deinem Herzen ein paar Augenblicke geatmet und geblinzelt hat, dessen Hand du kurz vibrieren gesehen hast vor dir in diesem unwirklichen gelben Licht des Waldes.

Ich dachte, ich sei zwei. Ich dachte, Richards Sohn und ich seien eins. Er wusste mehr. Er wartete nicht auf mich. Er ging einfach. Ich fühlte es in meiner Seite. Es wollte aufstehen. Es wollte weggehen, mich allein zurücklassen. Ich verkrampfte mich, verschloss mich, versuchte es, es tat weh, aber ich konnte es nicht fortlassen, versteht ihr das? Wer wäre ich gewesen, danach? Wer wäre ich geworden?

Wenn es sehr dunkel ist, und sehr warm, dann kriege ich das Gefühl wieder. Es will raus. Und die Zwerge stehen vor mir, kommen näher in unkontrollierten Sprüngen, entfernen sich wieder, ausserhalb der mir bekannten Dimensionen. Es ist das Fieber, das in der Realität meines Beiliegers nicht existiert, nur in mir. Was sie wollen, weiss ich nicht, doch sind sie keine Geburtshelfer, denn mein Geschwister verlässt mich nicht. Aber manchmal... Manchmal stehe ich auf und gehe. Schwitze mich ins Laken, atme mich raus aus dem Fenster, kratze in die Wände, und dann ist es zu spät. Du bist grundsätzlich dasjenige, das verschwindet. Das ist ganz einfach, schwierig ist das Zurückkommen.

Ich bin dann raus auf die Terasse getreten, und habe ein bisschen den Himmel angekuckt. Zum Runterkommen, habe ich mir gesagt. Die Droge, die ich nicht genommen hatte, wirkte wie Hölle. Ich sagte mir, komm' runter. Dann hörte ich seine Stimme.

Es ist vielleicht nicht richtig zu sagen, er habe gesprochen. Nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Es waren seine Stimmbänder, es waren meine Ohren, es war ein Geräusch. Es war grauenerregend. Ich konnte mich nicht bewegen. Die Gnome standen vor mir, mit erhobenen Gliedmassen und zuckten in meine Richtung und wieder weg. Ich fühlte mich versinken. Sie haben ihm nicht geholfen. Genaugenommen haben sie mir geholfen. Mein Fieber holte mich wieder zurück. Ich fühlte mein Herz - was will man mehr?
Wenn du so daliegst, in der Stille, und das Wasser auf dem Glas rasen hörst, als sei es dein Blut im Wettlauf mit du-weisst-schon-was, dann denke an meine Worte. Sie helfen dir. Sie versuchen es, wenn du es zulässt.

Der Himmel war klar, ich war es auch. Mein Blick reichte bis ins Auto und nach Hause. Mein Telefon funktionierte die Tage danach nicht mehr, was ich als Omen nahm, und die Tür klemmte, ihr wisst schon, blah blah. Er ist jedenfalls nicht mehr wiedergekommen. Nicht mehr zu seinen Freunden, nicht mehr zu Laura und Richard. Nur noch zu mir. Und die Hunde waren zu weit draussen, um mich zu bewachen. Das ist das traurige Geheimnis, nach all den Jahren. Ich bin zu feige gewesen, einst, zu feige jetzt.

Dabei ist es nicht wirklich schwer.