Mäntelchen          
    Was man kennt, ist nicht unbedingt auch immer das, was man versteht. Aber manchmal glaubt man, dass man etwas versteht, obwohl man es derart bis jetzt noch nie kennengelernt hat.

Andere erzählen einem von Erlebnissen, die sie hatten. Sie fragen: 'Kennst du das auch' oder 'Hattest du das auch schon mal?'. Und dann überlegt man sich, was man antworten soll. Einfach nur den Kopf zu schütteln, würde bedeuten, sich aus der Affäre zu ziehen. Aber irgendwie zählt das nicht. Weil, wenn man sich nur ein ganz klein wenig Mühe gibt und sich ein paar Sekunden Zeit zum Nachdenken einräumt, dann lässt sich doch immer etwas finden, was zwar möglicherweise nicht ganz genau mit dem zusammenfällt, was mit 'Kennst du das auch' oder 'Hattest du das auch schon mal?' gemeint ist, dafür jedoch mit irgend etwas anderem, was so ähnlich heissen könnte. Und vielleicht ist dieses andere letztendlich ja sogar dasselbe, wer weiss das schon? Vielleicht geht es auch gar nicht darum, ob es dasselbe oder nur etwas ähnliches oder gänzlich verschiedenes ist. Vielleicht ist es ja einfach nur schön, wenn man sagen kann: 'Ja, das kenne ich auch'.

Im Feld der vagen Vorstellungen gibt es nur fliessende Uebergänge. Deshalb geben sich die Worte, die man hierfür finden muss, sobald man eine Vorstellung mitzuteilen gedenkt, wie hilflos zuckende Hüllen, die platzen, wenn man mit der Nadel hineinsticht. Dann macht es peng! Peng! und laut! und ratsch! und bums! Peng! und laut! und ratsch! und bums! lassen aber nicht die Vorstellungen selber kaputtgehen. Denn es sind ja nur die Mäntelchen, in denen sie durch die Luft fliegen. Hüllen, Mäntelchen, egal wie man es nennen möchte. Man kann dort hineinkriechen. Zum Sommer eine Hülle, im Winter vielleicht lieber ein Mäntelchen. Damit es einem nicht so kalt wird auf der Reise, die man unternimmt, wenn man sich für ein Nicht-Kopfschütteln entschieden hat, sondern für ein 'Ja, das kenne ich auch'.

In dem Mäntelchen, das ich mir heute angezogen habe - es ist ein verregneter Herbsttag - bin ich zuerst einmal auf die Brüstung meines Balkons geklettert. Jetzt stehe ich dort. In meinem Kopf sagt etwas, dass der Balkon klein und der Rand, auf dem ich stehe, schmal ist. Wertigkeiten, die ich zu vergessen suche, weil ich jetzt erst einmal ein Stehen zwischen zwei Aggregatzuständen ausprobieren, fühlen und erleben will. Als Vorraussetzung für Ich-Weiss-Nicht-Was. Deshalb will ich die Konsequenz der Wertung 'klein' und 'schmal' vergessen. Hier bin ich bemüht zu sagen: 'Nein, das kenne ich nicht'. Weil ich befürchte, ansonsten mein Mäntelchen zu verlieren. Es zum Fallschirm umzufunktionieren. Und was hätte ich dann davon?

Einen sicheren Fall, nichts weiter. Einen Fall. Auf jeden Fall einen Fall. Aber an ein Fallen will ich jetzt, in meinem Mäntelchen, auf der Brüstung nicht denken.

Das Abwehren solcher Gedanken ist die erste Anstrengung auf der Brüstung meines Balkons. Und ich fürchte bereits jetzt, dass es dabei bleiben wird. Bei dem, was ich kenne und verstehe. Was ich begreife, weil ich die Begriffe hierfür kenne. Meine Begriffe. Nicht meine Begriffe. Aber auch nicht die Begriffe, von denen ich gesagt habe: 'Ja, das kenne ich auch'. Um zu verstehen, muss ich vergessen. Das Mäntelchen hilft mir insofern dabei, als dass es mir so eng am Körper liegt, dass ich mich darin hilflos fühle wie ein auf dem Rücken liegender Käfer. Denkt ein auf dem Rücken liegender Käfer an das Aufstehen?

Ich wehre mich dagegen. In jedem Schweisstropfen, der mir über mein Gesicht läuft, wird mir klar, wie sehr ich auf Kontrolle aus bin. Erst denke ich, dass er so bestimmt nicht kommen wird. Aber dann denke ich, dass mir 'bestimmt nicht' nur dann so grosse Schwierigkeiten bereitet, wenn ich es als einen Begriff für etwas, das bestimmt nicht eintreten wird, gebrauche. Ich schaü es also an, und begrüsse es. 'Hallo, Bestimmt-Nicht'. 'Hallo, Angst' und 'Hallo, Auf-Jeden-Fall'. Wollt ihr euch setzen und mit mir warten? Hier auf der Brüstung? So ein bisschen die Füsse baumeln lassen, zwischen Stein und Luft?

Natürlich haben sie darauf keine Lust. Viel lieber wollen sie sich mir ans Bein hängen und mich von dort unten ein bisschen piesacken und so. Aber ich habe gesagt, dass ich hier warten möchte. Auf das, von dem ich gesagt habe, dass ich es - ja - kenne.

Ich sehe nochmal in meinem Mäntelchen nach. Der Weg dort geht zurück. Und es heisst dort, dass das das Schwierigste sei. Das Umkehren. Ich könnte mich hier festbinden lassen. Dann wäre auch für mich das Umkehren schwierig. Ich kann es aber auch lassen. Denn ich kann mir vorstellen, dass dies hier bereits meine Umkehrung ist. Ich kehre in das Mäntelchen zurück, das ich, so kann ich mir das vorstellen, irgendwann verloren, abgegeben oder auch nur ausgezogen habe. An irgend so einen Nagel gehängt. Einen Schrank aus Stein um den Nagel mit dem Mäntelchen gebaut. Vielleicht habe ich das getan. Damit mir der Kragen des Mäntelchens nicht immerzu vor dem Mund herumweht, wenn ich etwas sagen will. Weil ich dachte, ein Sagen in Begriffen tun zu müssen. Also ohne das Mäntelchen. Und also das Mäntelchen an den Nagel.

Das mag mich jetzt nicht weiterbringen. Aber vielleicht wenn aus der Abwehrhaltung eine Art Routine geworden ist, die sich begrüssen lässt, wie ich ihn mit seinem Namen begrüsse, auch wenn ich diesen jetzt nur noch so vor mich hinsage, dann liesse sich daraus vielleicht trotzdem irgendwann eine erste Treppe bauen, auf dem Weg Ich-Weiss-Noch-Nicht-Wohin. So eine Treppe, auf der mich selbst im Winter auch ohne ein Mäntelchen nicht friert.

Ich habe mir 'Richards Sohn' genommen, weil ich von ihm sagen würde, dass ich von ihm gerne sagen würde, dass ich ihn - ja - kenne. Und weil sein Verstehen eine Herausforderung für mich darstellt. Das Mäntelchen vom Nagel zu nehmen. Nur so ab und zu. Dann und wann und sehr vorsichtig. Ich hoffe, er ist mir für diesen egoistisch motivierten Missbrauch, wenn es denn einer ist, nicht böse.