Die Flucht [04]          
    Ein Tag im Oktober:
Tage wie dieser spülen es hoch, das, was von mir nicht, nicht von anderen verstanden werden kann. Das verschüttete Stratum entsprachlichter Zustände, das sich in einem Flattern in meinem Brustkorb, in einem Ziehen in meinen Nieren, in der Vorsteherdrüse bemerkbar macht, kommt zum Vorschein, brüchig, in Fragmenten sichtbar, glitzert es im Sand. Es will raus - doch wie soll ich, das Gefäss seiner Fast-Manifestation, die dünne papierne Hülle, das Häutchen zur 'Welt', zum Geburtshelfer werden?

Es ist so einfach, etwas Sinnvolles zu tun oder zu sagen, etwas, das mit Leben und Spass, mit Essen und Fortpflanzung, mit der Energie der unschuldigen Lebenden zu tun hat. Es ist noch einfacher, die kleine kupferne Dose aus der Schublade zu nehmen und ihren Inhalt in die Nase zu ziehen. Bodice traf ich das erste Mal bei einer Freundin. Sie war so betrunken gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, was sie sich da mitgenommen hat. Als ich sie am nächsten Morgen mit einem Friedensangebot weckte, sah ich ihren ersten Blick des Entsetzens live und in Realzeit. Hätten wir damals nicht unser leidenschaftsloses Verhältnis leidenschaftlich beendet, hätte ich vielleicht ihrer Bitte nachgegeben und Bodice mitgenommen, mit einem Schlag die zwei Fehlschläge in dem ohnehin schon verschütteten Leben einer Langzeitstudentin sauber entfernt, auf dass sie sich in ihr nächstes Jahr von Selbsttäuschung und Enttäuschung stürzen konnte. Ich jedoch wollte nicht, liess mein Friedensangebot die Kloschüssel [von aussen] runterlaufen und verschwand unauffällig mit einem Teil ihrer Barbarella-Comic-Sammlung unter dem Arm. Ich sah sie lange nicht, doch Bodice begegnete mir kurz darauf wieder, im Arm eine minderjährige Obdachlose, die lustig mit ihren Augenpiercings zwinkern konnte und so breit war, dass sie dies auch bei Bodice praktizierte. Da ich keinerlei Zugang zu dem armen Mädchen hatte, tat ich nichts, um sie von dieser Dummheit abzuhalten.

Ich hätte mich vermutlich schnell wieder abgesetzt, aber Bodice versprach mir in ein paar kryptisch bedeutungsvollen Sätzen, wie das nun mal so seine Art ist, und wie ich es später lieben lernen sollte, dass er mir Zutritt gewähren würde zu seinem grossen Arsenal grossartiger Drogen, wenn ich ihm half, diesen kleinen verwundbaren Vogel in die sichere Zone unter seinem Körper zu bringen. Ich weiss nicht mehr, warum ich ihm bei diesem Unterfangen, so abstossend und ärmlich, wie es war, beigestanden habe. Der kleine verwundbare Vogel war jenseits von Gut und Böse und durch eine Bindehautentzündung fast gänzlich erblindet. Ich konnte mir keinen Grund vorstellen, warum Bodice bei ihr versagen sollte, zumal sie sein eventuelles Scheitern sowieso nicht bemerken würde. Angelockt jedoch von Drogen und Kabelfernsehen half ich ihm, den inzwischen bewusstlosen Körper in ein Taxi und zu ihm nach Hause zu transportieren. Das Innere seiner Wohnung entsprach dem Äusseren des Bewohners, und ich verzog mich sofort in den als 'Wohnzimmer' bezeichneten Raum, wo ich den Fernseher auf vollste Lautstärke schaltete, um nicht etwaige illegale Geräusche aus dem 'Schlafzimmer' mitkriegen zu müssen. Es nützte nichts - gerade, als ich völlig fokussiert auf Puff Daddys epileptische Minianfälle angesichts eines riesigen grünen Plastikkopfs, das Geheimnis der Welt, das Mysterium von Osiris' nächtlicher Fahrt durchs Totenreich ergründen wollte, hörte ich Schreie. Erst kamen die Schreie, dann die Schläge, dann kam nichts mehr.

Mein Kopf und Körper voll von grossartigen Drogen, die sich als schnödes Gras und Wodka entpuppt hatten, begann ich, durchzudrehen. Ich befand mich in der Wohnung eines Kinderfickers, der jetzt zum Kindermörder geworden war. Ich suchte die Tür nach draussen und fand sie nicht. Aus dem 'Schlafzimmer' drangen Geräusche, als würde jemand hastig und heftig etwas zusammensuchen. Ich stellte mir vor, wie Bodice unter dem fleckigen Laken eine weitere Waffe versteckt hatte, extra für mich bereithielt, um mich zu einem günstigen Zeitpunkt, zum Beispiel jetzt, damit zu beglücken. Ein gezielter Schlag auf den Hinterkopf, oder zuerst auf die Beine, um sie mir zu brechen. Vielleicht würde er mich vorher noch missbrauchen, beendigen, was er mit der Kleinen zuvor angefangen hatte, mich an den Heizkörper fesseln und seine gesammte Puff Daddy-Videokollektion auf mich wie Feuerregen niederprasseln lassen. Während ich in meinen masochistischen Phantasien schwelgte und schwelte, fand ich die Tür und war ... im 'Schlafzimmer'. Das Licht war an, man sah und roch, dass der Raum in die gleiche Wohnung wie das 'Wohnzimmer' gehörte, entworfen und bewohnt von demselben Menschen. Diesen sah ich nun diagonal im Bett liegen. Die Hände hingen über die Bettkante nach unten, sein Gesicht im Kissen versunken lag er auf dem Bauch. Was ich für ein perverses kleines dunkles Nachtcape hielt, wirkte beim nächsten Blick zu glänzend, zu enganliegend. Er hatte eine grosse Wunde im Nacken und sein Oberkörper war nackt. Seine Hosen hatte er noch immer an, der Arme. Nicht einmal in diesen Genuss schien er gekommen zu sein. Ich drehte mich um und kotzte über die leeren Flaschen hinter der Tür [in meinem Wahn dachte ich wohl, ich könnte zielen und in eine treffen]. Meine erste Begegnung mit meinem späteren Freund und Mentor hätte dramatischer nicht enden können. Also beschloss ich, dem ganzen die Spitze zu nehmen und den Krankenwagen zu rufen. Natürlich konnte diese Nacht nur noch einen Antiklimax vertragen.

II
Der Zusammenstoss mit den Herren Polizei endete unspektakulär wie so häufig, wenn Bodice ernsthaft einen suizidalen Abgang inszenieren wollte. Eine grössere Geldstrafe, den Führerschein durfte ich behalten, Bodice auch, obwohl er keinen hatte, und weg waren wir. Nicht nur die Drogen und das Geld, mein Geld, gingen zur Neige, auch der Gesprächsstoff tendierte gegen null. Ich war, wie meistens, genervt und wütend auf Bodice, und Bodice, aus mir unerklärlichen Gründen, empfand das Gleiche für mich. Wir überlegten uns ernstlich, uns zu trennen. Diese Chance auf Veränderung unseres ziemlich beschissenen, wenn auch dynamischen Zustands, taute unsere Kollektivlaune wieder auf. Wir beschlossen, einen trinken zu gehen und für wenig bis gar kein Geld, den Abend in fleischlichen Wonnen ausklingen zu lassen. Also fuhren wir die nächste Ausfahrt raus, durch diverse kleine Ortschaften mit wenigen freundlichen Kneipen und noch weniger freundlich aussehenden Gesichtern, die unserem Wunsch nach Entspannung hätten entgegenkommen können. Nun ist das Grosse Land ein Ort des Mythos. Unbestimmbar in Zeit und Raum, in Farbe und Essenz, lieben wir das Grosse Land, wenn wir in der Stadt sind, in der U-Bahn oder im Stau. Wir sehen uns mit nachdenklicher Stirn die Werbung für suburbane Neubaugebiete von Telefonzellen aus an, während wir darauf warten, dass die höfliche Computerstimme von einer unhöflichen menschlichen abgelöst wird. Das Grosse Land ist ein Traum in der Stadt und wird zu einem Alptraum in der Provinz.

Da ich ein disziplinierter Mensch bin, versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. Locker im Co-Pilotsitz hängend sah ich mir die vorbeiziehende Landschaft von ruinösen Dorfstrassen an, geschlossene Bäcker und verbarrikadierte Metzger, kleine dunkelbraune Häuschen, die, leicht nach vorn gebeugt mit Gardinen an den Fenstern, undurchdringlich, feindselig ihr Innerstes vor fremden Blicken beschützten, wenig Mensch in der frischen, ländlichen Atmosphäre. Ich bekam keine Luft mehr. Mein Blick glitt gegen meinen Willen, denn eigentlich wollte ich ganz locker und ohne Vorbehalte unseren Trip ausserhalb der Zivilisation geniessen, zu Bodice, der mit hochgezogenen Schultern auf dem Lenkrad klebte und mit über 100 km/h durch die mit Schlaglöchern und Kinderspielzeug gespickten Strassen bretterte.

Dass er damit die in den Fenstern nur erahnbare Dorfbevölkerung quälte und gefährdete und uns beide dazu, schien ihm egal zu sein. Wer will schon gern in einer vom Aussterben bedrohten Gegend wie dieser eine alte Frau oder einen Säugling samt Mutter überfahren? Ich sah, wie sich die Gardinen bewegten, aber es konnte auch mein getrübter Blick sein, der mir den Mythos zurechtlegte. Bodice gurgelte leise vor sich hin, schlimme Wörter, die mehr mit dem Necronomicon als mit unserer Situation hier zu tun hatten. Irgendwie schaffte er es wieder, uns in bekanntere, eher unserem gewohnten Lebensraum entsprechende Gefilde zurückzubringen. Wir landeten in einem Motel direkt an der Autobahn. Nach nordamerikanischer Art stand der zugegebenermassen billige Preis für ein Doppelzimmer in grossen, bunten Lettern über das ganze kastenförmige, pastellfarbige Gebäude verteilt geschrieben. Die Bar war gut bestückt, aber es gab keine Mädchen, ausser zwei weiblichen Angestellten, die in einer uns unbekannten Sprache redeten und so aussahen, als seien sie direkt aus einem der von uns durchrasten Dörfer rekrutiert worden.

Wir beschlossen, uns auf die Bar zu konzentrieren. Ausserdem bestellten wir uns riesige Mengen von ungeniessbarem Essen und legten uns danach in Erdnussschälchen. Bodice wurde lustig und zog sich zwei leere Chipstüten über die Hände, um mir seinen letzten Besuch beim Urologen vorzuspielen. Der Alkohol, in diesem Falle auf unsere Hotelrechnung gehende Scotchs, machte mich, wie so oft in letzter Zeit, paranoid. Ich sah, wie die zahlreichen anderen Gäste der Bar, im ganzen zwei vereinzelt herumsitzende Herren und ihre Schatten, uns misstrauisch beäugten, und der Bartender, von dem Bodice meinte, er habe mir zugezwinkert und ein unmoralisches Angebot gemacht, wurde zurückhaltender, was das Einschenken betraf. Ich wollte die nicht mehr endenwollende Geschichte vom Urologen- oder Prokologenbesuch nicht mehr hören, ich wollte die lächerlichen Tüten über Bodices wildfuchtelnden Armen nicht mehr sehen. Das Geknister hinter mir lassend, stand ich auf, zwinkerte nochmals dem schockiert aussehenden Barmann zu und ging nach oben. Unser Zimmer war relativ gross und hatte einen wunderschönen Blick auf die Autobahn, den besten Ausblick überhaupt, denn auf die andere Seite hinaus hätten wir nur Wald und stille Dunkelheit gehabt. Das gleichmässige Rauschen des spärlichen nächtlichen Verkehrs plätscherte kaum durch die schallisolierten Fenster. Ich stand versonnen davor und sah, wie unterbrochene Lichtschlangen in gelb und rot an mir vorbeizogen. Leider durfte diese kurze Phase der tiefen Meditation, dieser Augenblick der Besinnung nicht lange anhalten, denn bald schon hörte ich Knistern und Schaben an der Tür. Mein schlüsselloser Partner ersuchte um Einlass. Ich gewährte es ihm, was hätte ich tun sollen?

Unser anfänglicher, in den Dörfern des Todes gefasster Plan war gescheitert. Wir waren weder sturzbesoffen noch besinnungslos befriedigt. Wir waren immer noch ein Team. Nun waren wir lediglich wieder näher dran an der Zivilisation, einer Form davon jedenfalls, die sich als eben diese Lichtschlangen in unsere Augenwinkel einbrannte. Bodice jedoch, das konnte ich an seinem schelmischen Blick erkennen, hatte nicht vor, diesen Abend so hoffnungslos ohne Höhepunkt zu beenden. Ohne die verdammten Tüten runterzunehmen, stürzte er sich auf mich und boxte mich mit ein paar gezielten Schlägen auf den Kopf ins Bett und ins Nirwana.

Ich wachte auf, als er mir in den Schwanz biss, wie um mir die Wahrheit seiner mir immer wieder dargebotenen Selbstanalyse, nämlich, dass er nicht schwul sei und mit Frauen, insbesondere seiner Mutter gut klar käme, zu demonstrieren. Seine Beteuerungen, es täte ihm leid, gefolgt von der angesprochen Selbstdarstellung, schenkten mir wieder diesen wertvollen Kopfschmerz, der mich das Leben in vollen Zügen erleben liess, der Garant für die Gegenwart gleichsam. Als ich merkte, dass er die Chipstüten über meine Hände gestülpt hatte, virtuelle Fesseln oder Farbflecken in einem inzwischen sowieso recht bunten Bettzeug und ein wichtiges Detail in seinem mentalen Interieur, wurde mir richtig schlecht. Der Gedanke, dass ich noch unaussprechliche Aktivitäten mit ihm vollziehen musste, damit er schläfrig wurde und mich nicht wieder angreifen würde, verbesserte meine Laune nicht. Sex mit Bodice war so, als würde man in einem zähflüssigen Brei steckenbleiben, wenn man eigentlich lieber einen tosenden Fluss oder Wasserfall gar runtergeworfen werden würde. Andererseits musste ich mich nicht verausgaben und konnte danach in Ruhe wieder die Autos betrachten. Vielleicht auch schon währenddessen. Möglicherweise würde er dabei einschlafen. Er stellte den Fernseher an. Ich schenkte mir ein Glas ein und tat wie mir geheissen.

'Everyone has a Mother.
Unfortunately we have been mothered by Eve.'
Ich sitze im Zimmer meines Bruders vor seinem aufgegebenen Fernseher und gucke MTV. Die Satanistenstunde hat geschlagen und vor mir paradiert eine schwarze Kollektion unglaublichster Frisuren und lederähnlicher Stöffchen über ausgemergelten Körpern. Der Fernseher mit seinem hektisch flimmernden Bild in Videozeit passt gut ins allgemeine Ambiente des Zimmers. Zum einen stellt er die angenehmste Lichtquelle dar, denn mein Bruder hatte in einer seiner hippen Launen sämtliche normalen Glühbirnen durch Schwarzlicht ersetzt. Zum anderen entspricht der Rest des ausnahmsweise aufgeräumten Raums in Farbgebung und Zusammenstellung von Möbeln und anderen dekorativen Gegenständen genau der Ästhetik der auf billig gemachten Videos. Mein Bruder denkt und lebt Heavy Rock, und dieses Zimmer sei sein Zeugnis. Letzte Woche hat er uns verlassen. Meine Familie denkt zwar, er komme wieder, doch ich weiss es besser. Deshalb bin ich in sein Zimmer gezogen und werde heute Nacht das erste Mal hier schlafen. In dem riesigen Bett über dem mit unsicherer Hand gezogenen Pentagramm. Ich habe zu meiner Mutter gesagt, dass mir das nichts ausmacht. Nicht der Geruch, nicht die Gedanken, an das, was in diesem Bett vielleicht schon alles passiert ist [wahrscheinlich nichts, doch als kleiner Bruder hat man so seine Phantasien, und die grösseren Geschwister tun nichts, um diese Phantasien zu zerstören]. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich gemischte Gefühle habe. Doch eines steht fest: in dieser Nacht, im kommenden Schlaf, werden mir Antworten zuteil. Antworten, die mir zustehen, auf Fragen, die ich mir ein ganzes, kurzes Leben bis jetzt gestellt habe. Von denen nicht die unerheblichste die nach dem Verbleib meines Bruders ist.

Rasputin ist nicht der christliche Name meines Bruders, aber so will er genannt werden, und über die Jahre ist Ras, ganz kurz ganz cool, daraus geworden. Ras ist gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden. Er war einfach weg. Das mit vierzehn zu verstehen, in der Mitte einer grausam sich täglich verlängernden, nie endenden Kindheit, übersteigt meine emotionale Fähigkeit. Ich beherrsche noch nicht die Techniken, mit denen ich später ähnliche Tragödien verarbeite, bzw. verdränge, bzw. einfach vergesse, was meist die beste Taktik ist, und die, die mich zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft parallel laufen lässt. Man kommt sich nicht in die Quere, aber man trifft sich auch nicht auf den Feldern des Vergessens, was vor allem in Liebesbeziehungen von Vorteil ist. Die unbewusste, noch tief in mir schlummernde Einsicht, dass der Punkt kommen wird in meinem Leben, wo derartige Trauer- und Angstzustände, entstanden aus völliger Verständnislosigkeit und der Wut darüber, ein Ende haben werden, weil ich einen Weg nach draussen finde, der den Inhalt des Schmerzes zu seiner Form macht und umgekehrt, habe ich in dieser Nacht vielleicht dem Vermächtnis meines Bruders zu verdanken. Möglicherweise ist es das, was Ras mir hinterlassen hat: den Blick in die Zukunft und einen Weg raus. Und die Yardbirds schreien. Die Zeit ist reif.

III
In einer kurzen roten Erleuchtung kam mir der Gedanke, dass der Mann, der da so schwer auf meiner Brust lag wie Alpdrücken aus Grimmschen Märchen, vielleicht die grösste Liebe meines Lebens ist, mein persönlicher Alberich. Ich sage es nur ungern, aber könnte es nicht sein, dass dieser Mensch, so unangenehm seine Präsenz manchmal auch für mich sein mag, besser für mich ist, als alle anderen Wesen, mit Ausnahme meines Hundes Scoot, gotthabihnselig?

Sofort bekam ich Herzrasen, war es um mich wirklich so schlecht bestellt? Sollte das der letzten Weisheit Schluss sein, warum bisher keine andere Beziehung in meinem Leben geklappt hat, angefangen bei meinem Bruder bis hin zu meiner bis jetzt längsten Affäre mit einer Alkoholikerin namens Mircella? Brauchte ich etwa diesen mich prinzipiell abstossenden Partner in Crime, um mich besser, weniger merkwürdig zu fühlen angesichts der grossen Welle von glücksbringender Normalität und damit verbundenem Lebensfluss, die seit ich mich erinnern kann, in regelmässigen Abständen über mich herfällt, ohne mich mitzunehmen, ohne mich dabei haben zu wollen? Oder war Bodice der einzige ertragbare Mensch in meinem durch ausgeklügelte Strategien von der 'Realität' so weit wie möglich entfernt gedachten Leben? Er liess mich in Ruhe in meinem Wahn, in meiner Paranoia, in meiner Apathie, und penetrierte mich nur körperlich oder in dem bisschen Geist, was noch irgendwo gesund zu sein schien. Er war verrückt, viel verrückter als ich, und er stand mir in Egomanie in nichts nach. Er liess sich von mir nicht rumkommandieren und ich konnte ihn nur mit Drogen ködern, nicht mit Sex oder Geld. Das gefiel mir irgendwie. Deshalb gab ich nach, ab und zu.

Während ich wach lag in der aufziehenden Dämmerung, und mich in derartig frustrierenden Gedankengängen suhlte, fiel mir auf, dass wir eigentlich unsere Trennung feiern wollten. Das charakteristisch uncharakteristische Ende dieser Aktion erinnerte mich an die tausend Trennungen von Bodice zuvor, jede sinnlos für sich genommen, keine durchgezogen bis zum bittersüssen Ende. Komischerweise landete ich in letzter Zeit trotz bester Vorsätze immer wieder in dieser Lage, und das ist wortwörtlich gemeint. Wurde ich alt? Bald würde ich ausser dem schnarchenden Tier auf mir niemanden mehr in meiner Nähe ertragen. Jeder, der es wagen würde, mich aus meiner selbst verschuldeten Besinnungslosigkeit, dem liebevoll um mich herum gezwirnten Wattebäuschen rauszuholen, konnte mit meinem hassmotivierten Widerstand rechnen. Jeder, der in mein Leben einstieg, aus was für Gründen oder für wie lange auch immer, traf auf Bodice und alles, für was er stand. Bodice war das unausgesprochene Symbol meiner Lebenstreue und meiner Todessehnsucht, die nichts Romantisches, nichts Melancholisches haben. Obwohl mir das Leben generell noch nie Spass gemacht hat, wurde es in Bodices Gegenwart und der daraus resultierenden unnüchternen Perspektive zu einem reinen Überlebenskampf, dessen Sinnlosigkeit durch das Gefühl des Kämpfens in den Hintergrund geraten war [und von mir immer wieder auf den Feldern des Vergessens begraben wurde, von wo sie als ewiger Wiedergänger mir permanent Besuche abstattete, wenn ich versäumt hatte, mich auf die eine oder andere Art zuzudröhnen]; es wurde damit erträglich. Wir überlebten also, überlebten uns, unsere Exzesse, unseren Lebenshass und unseren pubertären Humor in Anbetracht der auswegslosen Lage.

Die Frage, ob unsere Wege nun auseinandergehen, und ob wir ein Ziel, vorläufig zwar und karmisch gesehen, bedeutungslos, festlegen sollten, erledigte sich, als es Morgen wurde. Bodice wachte auf und wusste nichts mehr von den vergangenen zwei Tagen, ausser dass ich es mit dem Barmann auf dem Klo gemacht hatte. Ich liess ihm seine Version der Dinge und sprach unseren kleinen Konflikt nicht mehr an. Die alte Frau ohne Falten und Fleisch hatte ihren Kopf wieder zurück in den Schrank gesteckt und ärgerte mich an diesem Morgen nicht. Wir gingen frühstücken.