Die Flucht [06]          
    Ein Tag im Sonnenschein:
Habe gerade dieses Heft gefunden, Parks Dokumentation unserer Reise. Es ist nur krankes Gekritzel, keine Buchstaben, keine Hieroglyphen, keine Zeichnungen, nur Gekritzel. Ich habe dir versprochen, auf ihn aufzupassen. Das ist keine einfache Sache. Im Augenblick steht er nackt auf dem Balkon und rezitiert Shakespeare. Wir sind in Italien, in der Nähe von Pisa, und ich würde mir gern die Kirche dort ansehen, dein Tip, aber ich kann ihn nicht allein lassen. Ich kann ihn auch nicht mitnehmen. Ich glaube, er hat die Pilze gegessen. Er spricht oft von dir, meistens verstehe ich nicht, was er sagt. Es ist wie das Gekritzel in seinem Heft - unverständlich. Nicht für Menschen bestimmt. Vielleicht kommunizieren Ausserirdische durch seinen Mund? Ich rufe dich an, wenn er einschläft. Hoffentlich bald. Grüsse. Parks Zustand wurde immer bedenklicher die letzten Wochen. Irgendwann mal nahm ich die Schlüssel zu seinem Auto, packte unsere Sachen, und wir fuhren los. Er hatte keine Zeit mehr, sich zu verabschieden. Ich rief lediglich bei seinem Arzt an und gab Bescheid, dass wir für ein paar Wochen verreist sein würden. Sein Arzt hatte nichts dagegen. Hoffnungsloser Fall. Wir fuhren bei seinen Eltern vorbei und besorgten uns Geld. Seine Mutter versuchte wie immer, mich im Wohnzimmer zu verführen, während sein Vater ihm einen Vortrag über seine Pflichten hielt. Gegen Abend kamen wir endlich los und fuhren Richtung Süden. Park faselte die ganze Zeit was von Polen und Ungarn, was ich ignorierte, und ich lotste uns durch Bayern über die Alpen hierher. In Südtirol sahen wir uns ein paar Kirchen an, die Saaligen. Mirce hätte hier sein sollen, es hätte ihr gefallen. Die Einheimischen reagierten feindselig auf Parks Kapriolen, und wir fuhren in der gleichen Nacht noch weiter. Um sich für sein Verhalten zu entschuldigen, wollte er mir in Mailand eine Nutte spendieren. Wir strandeten dann in Florenz in einem abgeranzten Laden, 'David', wo Park den David persönlich spielen wollte. Ich aber nicht. Jetzt sind wir hier, und ich muss die Drogen unter Verschluss halten, damit mein Partner hier nicht das schafft, was er die letzten Monate so erfolglos versucht hatte. Weswegen er inzwischen einen Vormund hat, dessen Rolle ich jetzt spielen darf. Wir hatten uninspirierten Sex. Ich wollte ihn ablenken und von meiner Tasche weghaben. Dann gingen wir essen. Ich habe das Gefühl, Park will bis nach Sizilien kommen, bis nach Cefalu, und ich will mir nicht vorstellen, was die Vibrationen des grossen Zauberers in seinem Hirn anstellen könnten. Wir sind noch jenseits von Gut und Böse.

Park hatte mit Mirce diesen höllischen Streit wegen seinen Stiefeln gehabt. Ich stieg aus und ging schon mal rein, aber die beiden anderen blieben im Auto sitzen und stritten sich, in der Hoffnung, dass es schon so spät war, dass man nicht mehr auffiel. Mit diesen Stiefeln. Ich blieb eine halbe Stunde, hatte meinen Spass, besorgte uns Vorräte, und als ich zurückkam, war Mirce weg. Park sass unbeweglich auf dem Fahrersitz und begutachtete seinen sich zurückziehenden Scheitel. Er war schweissüberströmt. Ein paar Meter weiter stand Toby. Wir hatten uns schon ewig nicht mehr gesehen, und er stürmte auf mich zu. Mit den Absätzen war er fast grösser als ich. Ich hatte die Vorräte und dachte, was soll's. Wir nahmen ihn mit. Park sagte nichts, aber er sah wenig glücklich aus. Sofort steuerte er den Stadtrand an. O.k., wir würden in den Wald fahren, ich war bereit. Toby hatte noch nichts gemerkt, er sass hinten, seine langen Beine auf den Sitz nebenan geknotet und plauderte fröhlich vor sich hin. Park schaftte es, in den Wald reinzufahren, indem er eine der rotweissgestreiften Stangen mitnahm. Dann liess er den Wagen einen von den kleinen, überwachsenen Wegen runterrollen, unberührt davon, dass wir da wahrscheinlich ohne fremde Hilfe nicht mehr rauskommen würden. Förster lieben das. Der Wagen rollte auf ein Rudel Äste, und Park liess seinen schweren Kopf nach vorn aufs Lenkrad fallen. Ich stieg aus und begann einen romantischen Spaziergang durch das nächtliche Naturschutzgebiet. Ich wollte so schnell wie möglich hier weg. Ich weiss nicht mehr, wie lange ich unterwegs war. Irgendwann mal bin ich eingeschlafen, auf einer Bank, und als ich wieder zu mir kam, dämmerte es. Es war höllenkalt und mein Blutdruck war ganz unten. Ich hatte keine Zigaretten mehr, nichts mehr zu trinken, also ging ich zurück, in der Hoffnung, dass das, was immer ums Auto herum passiert ist, vorbei sein würde. Ich sollte nicht enttäuscht werden. Es war niemand mehr da, ausser dem Auto. Und das steckte fest. Ich fühlte mich zu unansehnlich und zu schlapp, um nach Hilfe zu suchen. Deshalb setzte ich mich erst mal wieder in den Wagen und suchte nach Zigaretten. Natürlich fand ich keine. Als ich mich aufrichtete und aus dem Fenster schaute, sah ich das Blut. Die halbe Windschutzscheibe war voll damit. Es war kein Vogelblut, kein gebrochenes Eichhörnchen. Ich durfte mich erbrechen in der frischen Morgenluft. Nun war also Verantwortung gefragt. Ich musste einen von beiden suchen. Ohne dass sie mich von hinten erwischten. Unangenehm.

Das Krankenhaus hatte keine Zicken gemacht, sie entliessen ihn am nächsten Morgen. Eine Ärztin erzählte mir, seinem fiktiven Bruder, dass es wohl 'diese grausamen Pillen' gewesen sein mussten, die ihn so hatten durchdrehen lassen. Irgendein bösartiges Trauma aus der Jugend hatte sich wieder bemerkbar gemacht, seinen hässlichen Kopf aus der Motorhaube eines Autos gesteckt und ganz prosaisch zugebissen. Ich wusste, was sie meinte. Diese Geschichte am See. Er hatte sich immer geweigert, darüber zu reden, ausser wenn er sturzbesoffen war. Ich kannte sein Trauma also in und auswendig. Damals hatte er ein Mädchen in die Ödnis geschleppt und den bösen Onkel gespielt, um ihr Bedürfnis nach Abenteuern zu befriedigen. Vermutlich hatte er nur sich selbst befriedigt. Ich habe sie danach nicht mehr gesehen, aber seine Therapie erlitt ein paar Rückschläge, weil er sich immer häufiger an 'Missbrauch' erinnerte. Ich sagte, scheiss drauf, du lebst JETZT. Da hat er sich wieder ein Mädchen des nächtens am See geleistet. Diesmal wurde es für ihn ungemütlich. Sie zeigte ihn an. Aber wenn du ihn heute fragst, es ist immer diese erste Geschichte, die ihm Angst macht. Das erste Mal, als er das Biest spielen wollte und es schief ging.

Wir hatten es tatsächlich in die Kirche geschafft. Kathedrale, eher. In dem rosa Licht sahen wir aus wie zwei Neugeborene. Ich explodierte fast. Park kaufte kleine Marienanhänger für den Rückspiegel und kratzte den Ursula Andress-Sticker vom Armaturenbrett ab. Nur noch echte Heilige. Wir besorgten uns Gras und hingen zwei Tage in einem Dorfhotel ab. Ohne Fernsehen, ohne Telephon. Es war eine Wohltat. Meiner pornographischen Natur entsprechend jagte ich ihn die ganze Zeit durch das Zimmer. In Zeitlupe. Wir bewegten uns wie zwei gelangweilte, satte Reptilien. Ausser dass ich nie satt wurde. Parks Zigarettenkonsum hatte aus ihm einen alten Mann gemacht. Er kriegte ständig Hustenanfälle und war praktisch permanent knallrot. Nicht nur im Gesicht. Ich meine, überall. Ich hatte mir extra die Fingernägel nicht geschnitten. Irgendwie hatte ich mein Interesse an den Einheimischen verloren. Das einzige, was mich jetzt noch heiss machte, war Parks kranker Kopf. Und was manchmal raussprudelte, wenn man oft genug danach schlug. Am zweiten Morgen enterten wir den raren Moment, wo ich etwas über mich erzählte. Das kam nicht oft vor. Aber er erpresste mich sexuell, und ich dachte mir, scheissegal, er vergisst es sowieso wieder. Aber er schrie die ganze Zeit über verzückt, du auch! du auch!, so dass ich ihm das Maul stopfen musste. Eigentlich bin ich ein friedlicher Mensch. Doch bei gewissen Dingen fliegen bei mir die Sicherungen raus. Dann bestätigte sich die Theorie, dass Park ein armer Perverser ist. Mit dem Mund voller Blut flüsterte er mir Liebesbeteuerungen ins Ohr, während ich ihn wenig sensibel vor dem Bett kniend fickte. Egal.

Wir haben es nur bis Messina geschafft. Dein Ex-Freund stellt sich an wie ein Irrer. Er denkt, jetzt, wo er in Mafia-Country ist, sind seine Tage gezählt. Das sind sie auch. Aber ich werde die Exekutive sein. Ich habe mir ein paar Bücher gekauft, und versuche, die Sprache meiner Vorväter zu lernen. Wir haben praktisch überhaupt keinen Kontakt zu den Leuten hier. Mit Park geht das nicht. Beim Essen kriegt er epileptische Anfälle und im Klo schreit er wie abgestochen. Weil ich ihm nichts gebe. Das Zeug macht ihn impotent und schläfrig, doch das interessiert ihn nicht. Gestern hat er beim Essen Prozac bestellt, mit einem schlechten amerikanischen Akzent. Ich denke jeden Morgen daran, ihn sitzen zu lassen. Hier gibt's ein paar hübsche Gesichter. Aber ich denke mir, sie suchen uns wahrscheinlich schon in Deutschland. Das mit der Kreditkarte war nicht so eine geniale Idee gewesen, das gebe ich zu. Allerdings besser als Parks Idee, die Frau in der Tankstelle als Geisel zu nehmen. Bitte schicke das Geld an den oben angegebenen Namen und nicht an die Adresse, die ich dir letztes Mal gegeben habe. Park will jetzt übrigens Lime genannt werden. Unter dem Namen Lime Spider ist er hier eingecheckt. Und er hat mich als 'Bob' Dobbs ins Register geschrieben, bevor ich mich wehren konnte. Denk daran, wenn du hier das nächste Mal anrufst. Ich denke an dich.

Wir mussten mal wieder zu einem Konzert Limes' [ja, so weit ist es gekommen] Wahl gehen, ein Retrorockdrecksschuppen mit zwölftausend Langhaarigen aus Bologna, das mit den Haaren ist in Italien noch schlimmer. Entweder sie haben diese modischen Glatzen oder es sind kleine ... Jungs. Egal, ich setzte eifrigst meine Fremdsprachenkenntnisse ein, aber niemand verstand mich. Ich kriegte trotzdem was ab, während Lime-Park draussen an der Bar leer ausging. Leer wohl kaum ... er besoff sich natürlich und raste an mir vorbei nach vorne zur Bühne, schmiss ein paar Typen auf dem Weg um und machte sich insgesamt ziemlich beliebt. Es waren Gott sei Dank wenig Leute mit kurzem Haupthaar und Bandana unterwegs. Ich schwankte ein bisschen und sah mir das Konzert von hinten mit einer rundlichen Jungfrau an. Sie sagte, sie kommt aus Turin, und das wollte ich ihr bei ihrem Blick gern glauben. Sie fing an, mir ein paar spannende Sachen über Anton LaVey und Cefalu erzählen, aber ich überredete sie, den Rest von ihrem Ersparten zu nehmen und auf Gott zu warten. Am Ende des Konzerts oder am nächsten Morgen, ich hatte nur Haare gesehen, kam Lime wieder zurück. Glückliche Fresse, ein blaues Auge, beeindruckend. Das Mädchen sah bei Licht auch etwas anders aus. Wir gaben ein gutes Trio ab. Mir tränten die Augen und ich hatte ihren Lippenstift überall. Überall. Lime sagte nichts mehr. Sie besorgte das Taxi und wir verbrachten unsere letzte Nacht in Süditalien.

Wir haben Cefalu wieder verpasst. Oh, wie so oft habe ich den Gehörnten Hund um Haaresbreite nicht erreicht. Wir haben kein Geld mehr, und bei mir fehlt die Erinnerung an die letzten Tage. Bodice behauptet, er wüsste noch alles, aber ich bin mir sicher, sein Kopf ist so leer wie meiner. Er fährt schon seit Stunden mit einer Sonnenbrille durch die Dunkelheit, zweimal hätte er fast jemanden gerammt. Die Kleine hat er bei Pescaria rausgeschmissen [Gott, wie ist der Mann nur gefahren?], kurz vor Rom sind wir dann raus. Trotz meines andauernden Rumgezickes wegen der Umwege, die wir für seine wenig attraktiven Fickobjekte auf uns nehmen müssen, ist er gut gelaunt. Seine Hand liegt auf meinem Schenkel und er schwitzt nicht mal. Er scheint sich ans Klima schneller gewöhnt zu haben als ich. An die lokalen Gepflogenheiten auch. Zu jedem Essen ordert er Unmengen von Wein und bleibt ungefähr fünf Stunden durch alle Gänge hindurch sitzen. Er ist normalerweise nur zum Aufstehen zu bewegen, wenn eine Frau in der Nähe zu Anzüglichkeiten bereit ist. Was so gut wie nie vorkommt, also muss ich für gewöhnlich herhalten. Die letzte Nacht in der Nähe von Rom war anstrengend gewesen. Wir hatten einen Motorschaden gehabt [hört! hört!] und landeten in diesem einsamen Haus, was eigentlich kein Hotel war, uns aber trotzdem, gegen Kohle versteht sich, für die Nacht aufnahm.

Die Bewohner dieses runtergekommenen Schuppens, die kein Personal waren, denn wir waren ja nicht im Hotel, und sich dementsprechend unverschämt verhielten, bestanden darauf, dass wir zwei Zimmer nahmen, da wir nicht verheiratet und vom selben Geschlecht waren. Komische Politik, meiner Meinung nach, aber ich sagte nichts, und Bodice diskutierte merkwürdigerweise auch nicht mehr rum. Das Haus hatte es ihm angetan, er wollte unbedingt dableiben und das kleine Restaurant, eigentlich Wohnzimmer, im ersten Stock ausprobieren, den Wein, usw. Die zwei Zimmer kosteten natürlich mehr, und ich war sauer, dass er mich nicht unterstützen wollte, oder mich aus meiner Stummheit riss. Da ich seit Tagen nichts mehr gegessen hatte, und ausserdem das Glitzern in Bodices Augen nach der Hälfte der zweiten Flasche Wein nicht sehen wollte, noch den Grund dafür später im Hotelzimmer ertragen mochte, übersprang ich das Essen und ging gleich nach oben, wo ich es schaffte, mehrere Gramm Gras in ein paar wenige Schals zu packen und viele Brandlöcher im das Laken zu brennen. Bodice kam bald darauf hochgepoltert. Entweder war mein Zeitgefühl durch meine pyromanischen Tätigkeiten verändert, oder er hatte die Lust, ewig am Tisch vor Essen rumzuhängen, in Ermangelung meines Gezeters verloren. War es gar meine Begleitung, die er vermisste? Das durfte ich nicht hoffen, denn er ging schnurstracks ins Bett, ohne vorher noch bei mir reinzuschauen. Wahrscheinlich hatte er irgendwo bei sich Gras versteckt, das Schwein. Die Wände waren so dünn, dass ich jedes Geräusch mitkriegte. Er putze sich sogar die Zähne, das machte er nie, wenn er vorhatte, die Nacht in der Nähe meines Gesichts zu verbringen. Das tat weh.

In dem privaten Drei-Sterne-Hotel, wo wir residierten, gab es natürlich kein Fernsehen. Es gab nur ein albernes, kleines Radio und einen künstlichen Kamin, wo das hellrote Feuer unter Plexiglas fröhlich in regelmässigem Rhythmus loderte. Völlig geräuschlos und ohne Geruch. Bodice hatte kein Kaminfeuer, aber er hatte zwei Bibeln auf seinem Nachttisch. Dafür hatte ich gesorgt. Ausserdem war bei ihm ein billiger Spiegelschrank im Bad und eine kleine Marienstatue stand dort, wo der Fernseher sein sollte, auf einer modrig riechenden Kommode. Die Schubladen waren kaum aufgegangen, aber Bodice hatte natürlich jede aufgezogen und inspiziert. Es könnten ja irgendwo Pornos oder gebrauchte Kondome rumliegen. Tatsächlich hatte ich einen Slip unter meinem Bett gefunden. Nett, wie ich war, hatte ich den unter sein Kopfkissen gelegt. Vielleicht würde es ihm feuchte Träume bescheren und ich müsste nicht dran glauben. Denn ich war überzeugt, dass irgendwann mal in der Nacht die Tür zu meinem Zimmer aufgehen würde, die Verbindungstür zwischen meinem und seinem Zimmer genaugenommen, und sein massiger Körper, gesäumt von rotleuchtenden Höllenflammen, dem künstlichen Kamin gleich, unheilverheissend im Türrahmen stehen würde, leicht schwankend, betrunken oder voll von lange angesammelter Energie, die sich nun in einem gewaltigen aggressiven Akt gegen mich entladen würde, während ich, unschuldig an mein Bett gekettet, mit zerrissenen Laken an die Holzpfosten geknotet, resigniert auf mein Schicksal wartend... Nichts dergleichen geschah. Das Aas hatte mich vergessen.

Über meinem verletzten Stolz und der furchterregenden Einsicht, was das eigentlich für mich bedeutete, schlief ich ein. Ich schlief nicht wirklich fest, mir war kalt, der Blutdruck war unten und meine Füsse juckten höllisch. Das war eine alte Allergie, die immer mal wieder vorbeischaute, um mir zu stecken, dass meine T4-Helferzellen nicht so begeistert waren von meinem Konsum an ungesunden Substanzen wie ich. Mein linker Zeh kratzte den rechten Fussballen, aber ich war nicht bei der Sache und auf einmal durchzuckte mich ein bekannter Schmerz. Ich hatte mich blutig gekratzt, mit meinen blossen Fussnägeln. Was für eine Memme war ich doch. Ich machte das Licht an, nicht dass die alte Funzel viel brachte, ausser dem Gefühl, nicht im Dunkeln zu sitzen, und untersuchte meinen Fuss. Das mit dem Blut hatte ich mir eingebildet. Meine Füsse waren schweissnass. Ich hörte Bodice nebenan im Schlaf stöhnen. Es klang wie Schlaf. Wie Schnarchen, wie Alptraum. Das, was ich plötzlich fühlte. Dass ich noch nicht aufgewacht war. Mir gegenüber sass eine alte Frau in der Ecke gekauert. Sie hatte den unersättlichen Blick eines Cockerspaniels am frühen Morgen. Sie sah mich an, stumm. Und ich starrte zurück, so wie ich früh morgens in den Spiegel starren würde, hätte ich Zeit dafür oder einen Hund, den ich in der Morgendämmerung nach draussen tragen müsste. Das ging stundenlang so, so kam es mir jedenfalls vor. Dann machte ich meine Augen auf und sie war weg. Ohne sich zu verabschieden oder einen prophetischen Spruch hinter sich zu lassen, war sie verschwunden. War die Geisterstunde etwa schon vorbei? Es war fünf Uhr. Natürlich verbrachte ich den Rest der Nacht bei Bodice. Natürlich ernteten wir kuriose Blicke am nächsten Morgen. Wir würden nie wieder herkommen. Bodice kannte meinen zwiespältigen Hang zum Übersinnlichen, mein pathologisches Interesse und meine schizophrene Angst, sollte ich damit konfrontiert werden. Er wusste, wie verletzlich und erpressbar ich war in diesen Dingen. Also hielt er auf Turin zu.

-'Das mit Cefalu hättest du nie überlebt, mein Lieber.' Ich hasste es, wenn er mich 'mein Lieber' nannte. Seine arrogante Art wuchs mit seinem Vermögen, auf italienisch zu kommunizieren. Ich hatte ihm das mit seinen Vorfahren nie geglaubt. Wishful Thinking. Aber ich sagte nichts. Wir wurden weniger oft abgezogen und kriegten die besseren Drogen, seit er mit seinen Volkshochschulkenntnissen hochstapeln ging.

-'Turin, das ist es. Das doppelte Dreieck, weiss und schwarz. Zusammen mit Lyon und äh...London und Paris und...Berlin?' -'Berlin bestimmt nicht. Berlin ist so spirituell wie Castrop Rauxel.'

-'Istanbul?' Wie immer hatten diese Orte keine Bedeutung für uns, genausowenig, wie diese gesamte Reise. Die Tatsache, dass wir die letzten Jahre in Berlin gelebt hatten, hatte nichts mit unserer Realität zu tun. Wir hätten überall hausen können. Der Raum, in dem wir uns bewegten, wurde abstrakt und entfernte sich von uns, sobald wir ihn benannten. Was wir in Berlin machten? Was machten wir in unserer eigenen Haut? Das war der einzige Ort, zu dem ich so etwas wie eine Beziehung aufbauen konnte, mein verdammter Körper. Und das war schon schwer genug. Ich hoffe, das mit der Mutation stimmt. Im Augenblick jedoch störte mich mein Körper nicht sonderlich. Ich war abgemagert, weil ich immer wieder vergessen hatte, die köstliche Pasta in mich reinzuschlürfen. Eigentlich lebte ich nur von Zigaretten und Wein.

Mein Magen war im Prozess begriffen, sich selbst zu verdauen. Auch nicht schlecht, dachte ich mir, dann hat er wenigstens was zu tun. Ausserdem ass Bodice für uns beide gemeinsam. Er sah zwar nicht gerade gesund aus, doch er hatte eine imposante Figur, was uns bei Schwierigkeiten mit Einheimischen und anderen Fremden tatsächlich half. Und fremd war hier jeder. Wir sahen zwar eine Menge merkwürdiger, kaputter Gestalten, aber die schienen es alle nicht begriffen zu haben. Die Apokalypse war nah, und wir waren die Vorboten. Das war jedenfalls meine Auffassung. Bodice bemühte sich noch um Kontakt. Die Kommunikation mit Frauen, so wie er sich das vorstellte, war schwierig, also hielt er nach Typen, die ihn nicht total langweilten, Ausschau. Da meine Anwesenheit ihn wohl ebenfalls nicht gerade anmachte, verfiel er irgendwann auf Dorftrottel und Handleser, Kartenleger und religiöse Spinner. Wirre Köpfe interessierten ihn immer, er nannte sie 'bewusstseinserweiternd', ein Wort, bei dem ich kotzen muss, obwohl mir kein besseres einfällt. Es riecht so nach den Sechzigern, genauso wie Bodice. Jedenfalls schaffte er es auf seine verstörende Art, mich aus meinen körperlichen Pflichten zu entlassen und sein Glück woanders zu suchen, und manchmal war er sogar erfolgreich. Von diesen nicht schön anzusehenden Eroberungen will ich lieber nichts erzählen, aber ich bin mir sicher, sie waren 'bewusstseinserweiternd'. Sie haben zumindest mein Bewusstsein erweitert. Ich wusste nicht, wie weit man Grenzen überschreiten kann. Bodice überraschte mich immer wieder.

Das Bild hängt über dem Sofa, es ist nicht gerahmt, einfach eine bemalte Holzplatte mit unregelmässigem Rand. Es stört mich. Ich fühle mich insgesamt entrückt. Vielleicht liegt es daran, dass es sehr heiss ist, vielleicht liegt es an Mircellas erwartungsvollem Blick. Warum hat sie Bodice gemalt? Warum nicht mich? Ich weiss nicht, was ich sagen soll, und räuspere mich, so, als wollte ich was sagen, aber ich räuspere mich nur, zweimal, dreimal, fünfmal. Mircella sieht mich an, Alkohol glitzert in ihren feuchten grossen Augen, und sie erklärt mir, dass das ein Schauspieler oder Popstar oder was auch immer ist, jemand, den ich auch kenne. Ich kann mich nicht erinnern, den Namen jemals zuvor gehört zu haben. Ich kann mich nicht mal jetzt erinnern. Aber ich sage das nicht. Ich sage ihr lediglich, dass der Typ aussieht wie Bodice. Sie lacht, und dieses endlose, betrunkene Lachen rollt entspannt aus ihr raus und fliesst in jede Richtung ausser in meine. Ich weiss, ich könnte gehen, es würde keinen Unterschied für sie machen. Es wäre ihr auch egal, wenn ich ihr hier und jetzt die Kleider runterreissen und auf sie pissen würde. Sie würde immer ihre Integrität und ihren Charme behalten. Und morgen könnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Sie hat das Bild gemalt, um eine religiöse Ikone für ihren Altar zu haben. Der Altar steht allerdings woanders und es hängen schon diverse Ikonen um ihn herum. Alles gespenstische Gesichter, die, so kommt es mir jetzt vor, Bodice ähnlich sehen.

Ich bin mir sicher, sie hat mit ihm geschlafen. Nicht, dass ich es gemerkt hätte, oder sie, wahrscheinlich weiss nicht mal mehr Bodice was davon, aber ich bin mir sicher, da lief was. Die Vertrautheit zwischen den beiden, vor allem unter dem Einfluss von Alkohol, gibt mir zu denken. Andererseits denkt Mircella das Gleiche über uns, und würde ich nun logisch denken, und von ihrer Deduktion auf meine schliessen oder umgekehrt... ich bin mir sicher, da lief was. Und damals, als sie sich über die Stiefel stritten, Bodice meint zwar, er habe sich nur eingemischt in einen schon bestehenden Streit zwischen ihr und mir, bekam ich ein seltsames Gefühl. Vielleicht, weil er seine Hand zwischen ihren Beinen hatte. Wie kann man nur so streiten? Was ist das für eine Streitkultur? Es ist sicherlich wahr, dass es schwierig ist, mit Bodice Konflikte auszutragen. Entweder hört er nicht zu und macht das, was er von Anfang vorhatte, oder er will nach zwei Minuten Versöhnung spielen, was für mich die stressigere Variante darstellt. Das Bild... es ist, wie alle ihre Bilder in Blautönen gehalten, dunkel, die Augen betont. Sie hat jedem ihrer heiligen Portraits einen irren Blick gegeben, so als könnte man allen religiösen Fanatikern ihre Obsession schon von vornherein ansehen. Oder befand sich dieser Prophet gerade in göttlicher Verzückung, als sie ihn auf Holz bannte? Da es sich um einen Popstar oder Schauspieler handelt, tippe ich auf berufsbedingte Kokainsucht. Wie verträgt sich das mit der entspannten Alkoholatmosphäre in diesen von Räucherstäbchen geschwängerten Hallen? Mircella lacht zufrieden, wie eine Katze kurz vor dem Einschlafen, ein auditiver Milchtritt in meine Ohren. Ich weiss, wenn ich jetzt gehe, wird sie allen ihren Freundinnen erzählen, ich sei auf das Bild eifersüchtig, also bleibe ich und richte mich auf nekrophile Spielereien ein. In spätestens einer Stunde ist sie bei ihrem Verfallstempo bewusstlos. Das wiederum würde auch Bodice gefallen. War es nicht so...? Deshalb kann sich auch niemand mehr erinnern. Gnädige Amnesie. Nicht in meinem Fall jedoch. Ich bin wieder absolut Swann-mässig unterwegs und suche. Und finde...nichts.