Die 17 Exstasen des Martin Schmid          
    Martin Schmid konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann er bemerkte, dass seltsame Dinge in den Sternen geschahen. Das erste Mal fiel es ihm deutlich auf, als eine schwäbische Hausfrau in seinen Ohrhöhrer geschaltet wurde, deren Namen er schon in sein Laptop eingetippt hatte, ohne dass sie sich zuvor vorgestellt hätte. Natürlich erschrak sie, als er sie Gerda nannte. Das war aber nichts gegen seine eigene Bestürzung. Er konnte noch etwas von Sternkonstellationen murmeln, bevor er von seinem Stuhl kippte.

1. Ein schwarzer Hahn mit einem Goldring um den Hals
Gerda Krämer war immer noch in seinem Ohr, als er wieder zu sich kam. Sein Instinkt reagierte plötzlich wieder und er schob die Schuld auf Jupiter. Für Frau Krämer wäre die Welt nun wieder in Ordnung gewesen, hätte sich das Sternbild im Studiohintergrund - sie konnte es deutlich auf ihrem Fernsehschirm sehen - nicht in einen schwarzen Hahn verwandelt, der einen goldenen Ring um den Hals trug.

2. Die geflügelte Katze
Wie jeden Morgen versuchte Frau Johnson auch am Sonntag wieder, ihre Tageszeitung zu lesen, ohne sich allzusehr aufzuregen. Wie immer sonntags gelang es ihr aufgrund der mageren Qualität der Sonntagsausgabe nicht, einen gewissen Ärger zu unterdrücken. An diesem Sonntag aber las sie ihr Horoskop, was sie sonst nie tat. Sie war noch mitten in der Überlegung begriffen, warum sie jetzt und geradeeben Interesse für ein Horoskop aufbrachte, als eine geflügelte Katze aussen am Fenster vorbeiflog. Frau Johnson war nun nicht gerade abergläubig, aber was zu weit ging, ging zu weit. Es war dann fast schon nicht mehr wichtig, dass genau dieses Ereignis auch noch im Horoskop stand. Nicht in ihrem, das hätte sie wirklich erschreckt, nein, es kam unter dem Sternzeichen ihrer besten Freundin.

3. Das Opfer
Das Horoskop von Frau Johnsons Sternzeichen verkündete ihr für die kommende Woche die Schlachtung von neun schwarzen Welpen als Besänftigungsopfer an den aufbegehrenden Geist ihres verstorbenen Mannes, der sich nach neun Jahren schwerer schriftstellerischer Krise in einen römischen Senator verwandelt hatte und mit einer nubischen Sklavin durchgebrannt war, um in ihren Armen an einer im Hals steckengebliebenen Hundepfote zu ersticken.

4. Hahnfedern in Blut
Es war der Abend zuvor gewesen, an dem ich mich plötzlich in der Mitte eines mit erhabener Gleichmässigkeit gestalteten gleichseitigen Dreiecks befand. Ich konnte nur feststellen, dass ich in der Mitte war. Orientierungen wie rechts, links, oben, unten existierten nicht mehr. Die Seiten begrenzten sich durch Äusserungen und Erscheinungen. Drei Minuten zuvor noch sass ich mit Frau Johnson und Frau Dietrichsen in einer angeregten Plauderei begriffen inmitten von Musik, Menschen und Bier, und nun war ich umschlossen von Sternbildern auf der einen Seite, Planetenkonstellationen auf der anderen und der Aura von Martin Schmid auf der dritten. Es muss in diesem Moment gewesen sein, als Gerda Krämer den Körper Martin Schmids von seinem Stuhl auf den Boden beförderte. Sie hatte am Nachmittag Hahnfedern in Blut gekocht.

5. Die zweitausendste Wiederkehr des 9. Oktober
Nur Martin Schmid hat in seinem Laptop die erforderlichen Daten aller Sternbild- und Planetenkonstellationen, die erklären könnten, warum der 9. Oktober dieses Jahr Ende November stattfand. Aber da auch Martin Schmid nur beobachten konnte, und nicht um die Eingriffsmöglichkeiten wusste, lag das Schicksal wie immer in den Händen einer schwäbischen Hausfrau, die zufällig beim Maultaschenkochen zwischen Venus und Saturn geraten war. Gerda Krämers Mann hätte bemerken müssen, dass es Hahnfedern in Blut waren, die in der Teighülle versteckt waren, aber es schmeckte ihm wie immer vorzüglich und der Weg war bereitet für eine kleine Ungereimtheit in der Studiodekoration von Martin Schmids Horoskopberatungssendung, die Gerda wie immer am Abend anschaute.

6. Roter Ausschlag
Als Germanicus tot auf dem Marktplatz von Antiochia aufgebahrt war, konnte man einen Tag lang den roten Ausschlag auf seinem Bauch sehen. Es war der 9. Oktober.

7. Das gehörnte Baby
Am Abend, bevor ihr Mann sich verwandelte und mit der nubischen Sklavin seinem Schicksal entgegenfloh, hatte Frau Johnson einen roten Ausschlag auf seinem Bauch bemerkt. Sie wollte das noch unbestimmte Leiden sofort mit einer guten Salbe behandeln, er aber verweigerte sich der anzunehmenden Wohltat und trank lieber einen Schnaps. Am Morgen konnte sie noch im Halbschlaf seine Verwandlung verfolgen, dann war er weg. Zurück blieb seine erste literarische Äusserung seit neun Jahren: die detaillierte Beschreibung eines gehörnten Babys.

8. Kreide an der Wand
Frau Dietrichsen kannte Frau Johnson schon zu lange, um nicht sofort zu bemerken, dass etwas nicht stimmte an diesem Tag. Am anderen Ende der Telefonleitung war nur seltsames Gemurmel zu vernehmen. Es war Frau Johnson, aber sie redete an der Sprechmuschel vorbei von fliegenden Katzen, Opfern, ihrem schon vor neun Jahren verstorbenen Mann und auch von dessen schriftstellerischen Anfängen, die noch mit Kreide auf Wände geschrieben waren. Das waren politische Texte damals und jeder sollte sie sehen.

9. Der Talisman
Dass ich aus dem Dreieck, das ich das aszendentische nennen möchte, wieder herauskam, hatte ich bestimmt nur meinem Talisman zu verdanken, den ich immer bei mir trug. Es war der Schlüssel zur Unterwelt. Hekate, eine alte Freundin von mir, hatte ihn mir einmal geschenkt, als ich ihr einen Gefallen getan hatte, und den Kopf eines Negers, dem eine Hand im Mund steckte, unter den Fliesen eines herrschaftlichen Hauses versteckte. Martin Schmid sagte einmal, dass müsse in einem früheren Leben passiert sein, aber ich glaube nicht an Horoskope.

10. Der mitternächtliche Hahnenschrei
Erst zwei Wochen später wurde Frau Johnson und mir klar, was es zu bedeuten hatte, als Frau Dietrichsen sich Punkt Mitternacht aus unserer Runde mit den Worten, sie müsse jetzt ein Opfer bringen, verabschiedete.

11. Eisentafeln
Frau Gerda Krämer rief zum ersten Mal bei Astrofon an. Bisher war sie nur Zuschauerin gewesen. Jetzt hatte sie aber eine Frage. Es ging um ihre Zukunft. Alle Kinder waren aus dem Haus, ihr Mann arbeitete im gleichen Trott weiter, den er schon sein ganzes Leben zuvor hatte, und sie hatte nichts mehr zu tun. Sie hatte begonnen, Heimarbeit zu machen und Aquarellkurse zu besuchen, aber nichts befriedigte sie richtig. Und dann hatte sie begonnen, ihre Liebe zur Gravur zu entdecken. Eigentlich wollte sie von Martin Schmid wissen, ob es eine Bedeutung habe, dass sie seit einiger Zeit dem Drang nicht widerstehen konnte, Gemanicus in ihre Eisentafeln zu gravieren. Es sah jedesmal anders aus, aber es hiess immer Germanicus und sie wusste nicht, warum.

12. Grüne Jade
Sie hatte schon mit ihrer Nachbarin darüber gesprochen, die ihr ein Heilmineral empfohl. Aber der Anhänger aus grüner Jade, den sie dann anfing, um den Hals zu tragen, verstärkte nur noch ihr Verlangen, Germanicus in die Tafeln zu ritzen. Sie wunderte sich letzendlich nicht einmal mehr, als sie Hahnfedern in Blut kochte. Nur, als ihr Mann es beim Essen nicht bemerkte, aber da war es ja dann zu spät.

13. Die Hexe
Gerda Krämer wünschte Martin Schmid einen roten Ausschlag an den Bauch, als sie zum Telefonhörer griff.

14. Die Katze stürzt ab
Frau Dietrichsen hatte die fliegende Katze tatsächlich über der Stadt abstürzen sehen. Sie sagte es nicht einfach so zur Beruhigung ihrer aufgeregten Freundin. Sie hätte sie auch nicht anlügen können. Dafür kannten sie sich zu gut.

15. Ein erwürgter Hahn
Ich gebe es ungern zu, aber genau im Zeitraum von Frau Johnsons Erblicken der fliegenden Katze bis zur Vermeldung ihres Absturzes habe ich die Wiederholung der Astrofon-Sendung vom Vorabend beim Frühstücken gesehen. Ich sah Martin Schmid, wie er bestürzt vom Stuhl fiel, wie er als geistlose Körpermasse auf dem Boden lag und sich für Momente seine Aura als goldener Hahn im Hintergrund materialisierte. Ich meinte dann, die Erscheinung Gerda Krämers durch den Ohrhöhrer Martin Schmids kommen zu sehen. Sie erwürgte den Hahn.

16. Nichts ist mehr so, wie es einmal war
Martin Schmid hat ein neues Laptop. Gerda Krämer kocht nie wieder Maultaschen und in Gablenberg werden neun schwarze Welpen vermisst.

17. Das 17. Zusammentreffen der Astrologischen Runde
Wir treffen uns seither immer Sonntag vormittags. Frau Johnson bringt das Zeitungshoroskop mit, Frau Dietrichsen frische Brötchen - sie weiss, wo man auch sonntags welche bekommt - und ich habe schon Kaffee gekocht. Die ersten Treffen unserer kleinen Runde waren noch mit der Aufarbeitung der seltsamen Ereignisse an jenem Wochenende gefüllt, aber irgendwann muss man sich auch wieder dem aktuellen Geschehen widmen. Zum Glück gibt es Martin Schmid, der uns allsonntäglich fröhlich vor Saturn und Venus sitzend in die neue Woche leitet. Manchmal rufen wir auch an und fragen ihn persönlich nach Liebe und Glück. Er kennt schon unsere Geburtsdaten.

18. Hekate und die Zukunft
Im nächsten Jahr wird der 9. Oktober Ende Dezember sein. Steinböcke sollten sich auf eine Begegnung mit dem abgeschlagenen Kopf der nubischen Sklavin des Senators Johnson gefasst machen. Ich bin Löwe und ausserdem ein Freund Hekates. Es wird ein ruhiges Jahr werden.