Der Sakralkönig          
    Wenn ich rauche, dann ist es genau das, was ich in diesem Moment brauche, damit ein anderes Wesen in mir Luft gewinnt, Stimme und Willen. Die Pflanze, die mit mir aufgewachsen ist, ist getränkt mit mir, meinen Ausdünstungen, meiner Essenz. Sie gibt mir das, was ich in sie unbewusst hineinkodiert habe. Sie gibt mir Angst und Ekel, sie gibt mir Aufbruch und Zusammenfall.

Ich kollabiere innerlich, doch äusserlich sitze ich auf dem Sofa und schlafe. Meine Augen, halbgeöffnet, registrieren die Dunkelheit, die sich im Spiegel gegenüber um sich selbst dreht. Heute habe ich ihn noch nicht gesehen, aber ich fühle, wie er von einer Ecke des Zimmers in die andere kriecht, höre das Schaben auf dem Holz. Die Dunkelheit ist nicht undurchdringlich, aber dicht genug, um sie wie ein Mantel um meine Gestalt zu legen. Meine Stimmbänder beginnen zu vibrieren, und ich fange an zu singen. Der Anfang vom Ende seines Besuchs, die nächste Phase. 'Please stay away and share my dream.'

Das wird er nicht. Er wird bis zum Spiegel kriechen, sich aufrichten, mich aus halbgeöffneten Augen, seinen Oberkörper leicht nach hinten gebeugt, ansehen. Er wird mit seiner ihm eigenen Art, sich zu bewegen, auf mich zukommen, langsam tänzelnd, immer nach hinten gebeugt, beweglich im Rücken, seine Hüften einem martialischen Schild gleich starr nach vorne gerichtet. Ich versuche, aufzuwachen. Das Spiel ist schon wieder zu weit gegangen. Leichte Panik zuckt in meiner Brust. Wenn ich mich nicht befreie, bevor er vor mir steht, vor dem Sofa hin-und herwackelnd, und seine Hand nach mir ausstreckt, die andere hinter dem Rücken zusammengeballt, habe ich verloren. Er kommt näher in seinem charkteristischen Schritt. Er steht vor mir. Ich reisse mich nach oben, einen Teil von mir. Seine andere Hand schnellt vor und legt sich -

Die Zeit war noch nicht gekommen, und da war es schon vorbei. Lichtreflexe in der Windschutzscheibe.

Ich habe Angst in den Spiegel zu sehen, Angst zu sehen. Wo ist es? Der Betrunkene nimmt meine Hand und zieht mich aus dem Auto in den überfüllten Raum. Es ist hell, funkelnde Gesichter. Es ist zu spät. Es ist schon lange zu spät.

Bodice und Park nehmen sich an der Hand und gehen in den Raum, der zu voll ist, und zu laut. Paranoia wabert in ihren Augenwinkeln, sie fühlen sich wie eine grosse pulsierende Gruppe, ein dumpfer, alles umfassender Herzschlag bestimmt das Tempo ihrer Bewegungen. Beide haben Wunden am ganzen Körper, die, natürlich selbst zugefügt, keineswegs dunkler als Kriegsverstümmelungen oder allergene Ausschläge sind. Die letzten Tage waren in einem Sumpf von zeitlosem Delirium und Verflüssigung im Raum versunken. Nun wissen sie nicht mehr, wo sie anfangen, wo sie aufhören. Ihre Körper haben ihre Festigkeit verloren.

Zitternd gehen sie in diesen Raum. Das Licht ist zu grell, zu laut, die Stimmen nicht auseinanderzuhalten. Ein dicker Brei von Wahrnehmungen schüttet sich über ihnen aus. Es ist Walpurgisnacht. Ein kreuzförmige Metallvorrichtung schiebt sich zwischen sie. Bodice wird hysterisch. Park ist verschwunden. Er sitzt noch immer im Auto, den Rückspiegel auf seine glänzende Stirn gerichtet. Ein Mann in hohen goldenen Stiefeln läuft an der Seite des Autos entlang und fixiert ihn durchs Fenster. Sein Kopf leuchtet. Er würde lächeln, könnte man es sehen. Park schliesst seine Augen, reisst sie auf und fährt los. Der Gestiefelte sitzt neben ihm, die langen Beine übereinander geschlagen. Bodice dreht sich benommen, die Haare hängen ihm in die Augen, er sucht nach seinem Freund, er schreit. Die Laute, die scheinbar aus seinem Hals kommen, sind unartikuliert, aus rot leuchtender Tiefe in die Freiheit geschleudert, hoch und gebrochen, sich ihrer Sinnlosigkeit bewusst. Er wird ihn nicht finden, der Sakralkönig hat ihn mitgenommen.

Park hält an einer verlassenen Scheune, die sich alsbald in einen Palast aus Bäumen und Mädchen verwandelt. Der Mann in den Stiefeln bedeutet ihm, auszusteigen. Die beiden gehen auf den Palast zu. Sie gehen durch immer dichter werdenden Wald, durch den hingebungsvoll wabernde junge Frauen ihre Kreise ziehen. In der Mitte der Baumkreise setzt der Gestiefelte Park auf einen unbehauenen Stein und zieht sich einen goldenen Handschuh über seine linke Hand. Zwie weissgekleidete Mädchen halten ihn fest, eine weitere zieht ihm die Hosen aus. Der Gestiefelte tänzelt in die Nähe des Feuers, windet sich vor den Flammen wie ein Scherenschnitt im Wind und kehrt mit grossen Schritten zurück, eine Hand hinter dem Rücken. Die Schritte sind gross, der rote Absatz bohrt sich in den weichen Waldboden, das Leuchten hat ihn nicht verlassen. Park kann sehen, dass er lächelt. Seine Hand schnellt vor -

Bodice nimmt meine Hand und zieht mich in den überfüllten Raum. Es ist zu laut hier und zu spät. Wir entern die Toilette. Die Musik, die aus kleinen weissen Kästchen über der Spiegelleiste tröpfelt, lähmt mich. 'Give me a reason to love you.' Was war denn da im Spiegel? Eine Geisterhand? Jemand zieht mich von hinten in eine der Kabinen und drückt mich nach unten. Ich kann Bodice riechen, sage aber nichts mehr, ausserdem habe ich den Mund voll. Es ist zu heiss hier und zu voll. Die Musik lähmt mich. 'Move over and give me some room.' Draussen will ich ins Waschbecken kotzen und sehe, dass es voll mit Blut ist. Scheiss Junkies. Abends liege ich neben mir und sehe zwei Reihen von Brüsten, die meinen Torso vorne bedecken, wie ein kleidsames Vietnamtarnjäckchen mit vielen gefüllten Taschen. Mein Haar kringelt sich um zwei stattliche Hörner auf meiner glänzenden Stirn, und ich fühle mich wirr. Meine Beine sind verschwunden. Ich kann nicht aufs Klo gehen. Ich kann nie wieder aufs Klo gehen. Die Mission ist schon vor der versuchsweisen Umsetzung gescheitert.

Irgendwelche Idioten rufen immer und immer wieder nach mir, meine Namen schallen von urbanen Dächern und aus Häuserschluchten. Bodice ist leider nicht mehr da. Die Geräusche in der Wohnung rauben mir den letzten Nerv. Neben mir liegt etwas, es ist warm und es atmet. Meine linke Hand schnellt vor und legt sich -

Der Sakralkönig, jung gekrönt und durch eine Luxation der Hüfte nicht mehr mit beiden Fersen fest auf dem Boden stehend, nackten Körpers in hüfthohen Stiefeln, deren rote Absätze ihn atemberaubende Pirouetten drehen lassen auf nächtlicher Strasse, macht Park macht Bodice macht mir die Augen zu mit einer selbstverständlichen Handbewegung. Er ist immer das letzte, was ich sehe, bevor mein tremensgelber Blick von allein an die Decke wandert. Er ist der Letzte, und er öffnet ihr die Tür, wenn sie nach Hause kommt, nach einem arbeitsreichen Tag, wenn die Drogen nicht mehr wirken, wenn sie sich erschöpft in einen schweissnassen Sessel fallen lässt. Wenn die Angst endlich zuhause ist.



Die Flucht
I
Wir waren auf der Flucht, lange bevor wir abgehauen waren. Morgens, als ich über dem Kaffee Bodices Tränensäcke und rotgeränderten Augen auftauchen sah, fühlte ich, wie die Schwere von meinen Schultern wich, und eine andere Art von Energie mich zwischen die Schulterblätter und nach vorne stiess. Ich war befreit, wir konnten los. Bodice hatte in seiner unartikulierten Art nichts dagegen einzuwenden. Er setzte sich ins Auto und wartete auf mich. Organisation war nicht sein Ding. Angesichts der Grossen Angst wirkte er normal, obgleich ich wusste, dass er innerlich brannte, was ihn wiederum lähmte. Er war mir keine Hilfe. Beim Rausgehen riss ich die Tücher von den Spiegeln, warf die Aschenbecher runter und stolperte mit den Koffern nach draussen. Unsere Vorräte waren stark geschrumpft in den letzten Tagen. Aber das berührte mich jetzt nicht mehr. Wir waren auf dem Weg.

Bodice war die meiste Zeit über schweigsam. Er kratzte sich unaufhörlich, und das Kratzen war das einzige, was ich hören konnte, wenn wir vor einer Ampel standen. Mein Gehör konzentrierte sich geradezu auf die Schabegeräusche. Ich hasste ihn dafür. Ich hasste ihn, weil er nichts sagte. Ich hätte ihn erstechen können. Ein paar mal versuchte ich, ihn aus dem Wagen zu schubsen, wenn er gerade aufgehört hatte, sich zu kratzen und eingeschlafen zu sein schien. Doch er war schwer und liess sich keinen Zentimeter bewegen. Und Berge könnte ich nicht versetzen, käme es darauf an. Er tat immer so, als würde er meine Angriffe nicht bemerken, aber manchmal, wenn ich mich eigentlich auf den Verkehr konzentrieren sollte, was ich nicht konnte, sah er mich von der Seite vorwurfsvoll an, seine Augen und die Haut zwischen Nase und Lippen feucht. Wenn ich mich ablenken liess und ihn konsterniert ansah, tat er so, als sei er in Gedanken versunken und kratzte sich am Sack oder auf dem Kopf oder sonstwo. Oder er trieb mich völlig in den Wahnsinn, indem er den Dreck unter den Fingernägeln hervorpulte und in Richtung des Lenkrads schnippte. Wir redeten nicht über uns. Wir redeten nicht mal über unsere kleingewordenen, ins Nichts schrumpfenden Vorräte. An der nächsten Tankstelle bewegte er seinen schweren aufgekratzten Leib aus dem Auto in den Tankstellenladen, wo er längere Zeit unschlüssig vor den Regalen stand und sich kratzte. Ich kaufte Zigaretten und was zu trinken, bezahlte und versuchte auf dem Weg nach draussen, ihn mitzuziehen. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf ein paar nackte Fernfahrerinnen in Magazinform direkt unter ihm. Ich ging ohne ihn raus, parkte das Auto und schlief ein. Als ich aufwachte, war es dunkel geworden, und Bodice sass ohne Hosen neben mir. Auf seinem Schoss waren diverse Sandwiches ausgebreitet und teilweise zerlegt. Er ass nichts, sondern zerbröselte das weiche, feuchte Brot zwischen seinen glänzenden Fingern. Dabei lächelte er glücklich. Mir tat alles weh, vor allem mein Nacken, und der Schmerz zog in meinen Kopf, als ich sah, wie sich eines der Brotstücke bewegte und den Blick auf seinen befleckten Slip freigab. Er warf mir einen kurzen koketten Blick zu, so, als sei ihm das peinlich, und arrangierte die Sandwichteile erneut auf seinem Unterleib. Mit hämmerndem Kopfschmerz und quietschenden Reifen fuhr ich los und preschte wie ein Berserker zwischen zwei Autos zurück auf die Autobahn. Wenn ich mich sehr anstrengte, konnte ich sie im Rückspiegel sehen, die Hure Angst, mit leuchtendem leeren Gesicht und Pusteln am ganzen Körper.

Beim Frühstück hatten wir das erste Gespräch. Wir stritten uns, wer weiterfahren sollte. Ich hatte den ganzen Tag und die Nacht am Steuer verbracht, doch Bodice weigerte sich, mich abzulösen. Das Argument verliess seinen mondänen Pfad und ging zu existentiellen Dingen über. Bodice grunzte:
'Entweder hast du Angst vor was, oder du hast Angst vor nichts. Vor dem Grossen Nichts, der Scheissleere, du weisst schon. Ich habe Angst vor dem Nichts. Wenn ich dann am Steuer sitze und darüber nachdenke, was ich da mache, wer ich bin, und dann merke, da ist nichts...'

Seine ungewöhnlich lange Rede brach ab mit einem nicht untypischen gutturalen Laut. Ich wusste, was er meinte.
'Wie, glaubst du, geht es mir dabei? Denkst du, ich finde es geil, auf diesen Scheissstrassen in der Dunkelheit wie ein Idiot unter Idioten rumzufahren? Jetzt ist es wenigstens hell, und du kannst dir die Autobahnvegetation ansehen, und die Tramperinnen und was weiss ich.'
Wohlwissend, dass es keine Tramperinnen auf der Autobahn gibt.

Keiner von uns wollte das wirkliche Problem ansprechen. Wir hatten kein Ziel. Wir wussten nicht, wohin. Obwohl wir kilometerweise Land hinter uns liessen, bewegten wir uns trotzdem im Kreis. Das war schon vor der Flucht so gewesen. Und nun hatten wir kaum noch Möglichkeiten, dieser nicht unerheblichen Tatsache nicht ins Auge zu blicken. Auf dem Parkplatz rauchte ich einen meiner schlecht gebauten Joints, ans Auto gelehnt. Ich war nicht müde, verbotene Substanzen zirkulierten vermutlich noch immer in meinem Darm, ganz zu schweigen von meinem Schal. Bei Bodice war ich mir nicht so sicher. Er hatte so ziemlich jedes Klo auf der Strecke besichtigt. Jetzt sass er missmutig auf dem Fahrersitz, Arme verschränkt, und kaute lustlos auf seinem Herz-Kreislauf-Medikament herum. Sein massiver Leib dehnte sich aus und fiel zusammen im Rhythmus seiner Kieferbewegungen. Ich gähnte und hing mich in den Beifahrersitz, der, so hatte mir Bodice fünf Minuten zuvor erklärt, der Co-Pilot-Sitz sei. Da ich die 24 Stunden zuvor keinen Co-Piloten gehabt hatte, und nun ausserdem auf zugespeichelten Sandwichfragmenten lag, ignorierte ich seine vorwurfsvollen Blicke und das Zittern seiner Lippen und stellte mich schlafend. Dann schlief ich, glaube ich, wirklich ein, denn ich hatte einen Alptraum, der im Vergleich alles Davordagewesene zu reinem Spass werden liess.

Der Alptraum:
Bodice in einem cremefarbigen Leibchen macht ein paar zaghafte Sprünge auf mich, schutzlos auf dem Boden liegend, zu. Wir befinden uns auf einer sehr grünen Wiese. Der Himmel hat das Blau alter Super-Acht-Filme und ich fühle den Wind, den Bodice mit seinen kräftigen Beinen erzeugt, bevor er auf meiner Brust landet. Da steht er nun, ein Berg von einem Mann in unschuldigem Leibchen, und sieht mich triumphierend an. Er beugt sich nach unten, ich sehe, dass er schon wieder schwitzt über der Oberlippe, dort, wo bei normalen Männern ein Bart sitzt, er beugt sich weiter runter, er öffnet seine nassen Lippen, seine leicht gelben Zähne öffnen sich auch, gottseidank ist es ein Traum und ich kann ihn nicht riechen, das ist mir selbst im Schlaf bewusst [oh, lass es Schlaf sein], ich sehe seinen purpurnen Schlund, Purpur ist die Farbe der höchsten Spiritualität, seinen Gaumen, die cremefarbigen Mandeln, den Rachen, den Hals von innen, die Speiseröhre. Moment mal. Ich glaube, er verschluckt mich. Er tut es tatsächlich. Ich fasse es nicht. Bevor ich mir gewahr werde, dass ich mich von nun an an der newsgroup für sexuelle Perversionen, Abteilung Verschluckt-Werden als aktiver/passiver Teilnehmer beteiligen kann, hat er mich verschlungen und fängt an, sich selbst gleich hinter her zu schlucken, denn er steht ja auf mir und kann nicht entscheiden, wo ich anfange und er aufhört. So jedenfalls erkläre ich mir das. Er verschluckt sich selbst, was mich an den Ouroboros erinnert, die Schlange, die sich selbst verschlingt, aber dieser Gedanke in all seiner akademischen Prägung [oh ja, ich komme aus einem gebildeten Geschlecht] rettet mich nicht vor der Tatsache, dass es zwar widerlich ist, verschluckt zu werden, es aber noch viel ekelerregender ist, wenn der Verschlucker einem auf Schritt und Tritt folgt, wenn ihr versteht, was ich meine. Ich hatte aber nicht mehr viel Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn ich wurde meinen Träumen unsanft entrissen, als Bodice eine kleine Auseinandersetzung mit Vertretern des Gesetzes nicht an meinem Bewusstsein vorbeiziehen lassen wollte und mich deshalb weckte. Wofür ich recht dankbar war, denn das Auto lief auf mich und Bodice war sturzbesoffen.