Allmachtsphantasien          
    Mircella war eine beständige Trinkerin.

Sie trank nicht, weil sie den Alkohol in ihrem Körper als Sedativum benutzte, oder als toxische Substanz, die sich neue Nervenbahnen erschaffen hatte und nun als einziger chemischer Stoff in der Physis auf diesen Strassen hin- und herreisen konnte. Sie trank nicht, um ungehemmt über Hemmungen und traumatisierende Lähmungen im Alltag nachzudenken, und eventuell kurzzeitig darüber hinweggehen zu können.

Alkohol, und der Akt des Trinkens, war für sie vielmehr Initiation eines bestimmten Rasters, durch das sie die Welt zeitweilig wahrnehmen durfte, eine Struktur, die ihr das Denken ermöglichte, von dem sie zumindest annahm, es sei ihr bestimmt gewesen, bevor im zarten Kindesalter plötzlich und unvermutet das Grausen der Metaebene auf sie einschlug. Nach diesem unbestimmten, doch den weiteren Lebensweg definierenden Zusammenbruch ihrer bisherigen Denkprozesse war nichts mehr, wie sie es gewohnt war. Doch passierte dieser Anschlag auf ihre Psyche in einem sehr frühen Alter, so dass sie sich nicht wirklich daran erinnern konnte.

Die Metaebene veränderte alles. Ihre Sinneseindrücke, ihre Assoziations-Ketten, ihre Träume und scheinbar bewusstlosen Instinktäusserungen gerieten zunehmend in den Hintergrund und wurden zu einem bunten, lebhaften Bild, auf dem sich das Wichtigste, das sich in den Vordergrund Drängende, zitternd abzeichnete. Das Denken über das Denken wurde wichtiger als das Denken und war bald untrennbar damit verschmolzen, wie Scheiben aus Plexiglas, die sich hintereinander aufstellen und die verschiedenen Schichten der einzelnen Gedanken darstellen. Mircella konnte nicht mehr denken, genausowenig, wie sie gedacht wurde. Sie konnte nur noch über das Denken nachdenken, und, einem kleinen, leuchtenden Astralleib, einer hellschimmernden Kugel gleich, über ihrem denkenden, sich-weg-denkenden Leib schweben und sich beim Nichtdenken zusehen, Denkfalten in Stirn und Bauch inklusive.

Die Metaebene also zerstörte ihren Zugang zur 'Welt', was auch immer man darunter verstehen will. Sie war unfähig, sich auch nur einer einzigen Sache zu widmen, mit vollem Herzen und Magen-Darm-Trakt auf Durchzug gestellt, das Gehirn als Auffangstelle für das, was abfiel. Sie tat immer mehrere Sachen gleichzeitig, und vorallem dachte sie immer viele Dinge auf einmal, unfähig, diesen schlechtriechenden, stagnierten, obwohl sich bewegenden gelben Strom von Gedanken, sich durch Plexiglas-Scheiben drückenden Symbolen und Bildern in einen See zu lenken, von wo aus sich konzentriert kurze, zu 'Ende' gedachte, was auch immer das sein mag, Ideen durch Dammlöcher gepresst nacheinander in ihrem Kopf auseinanderlaufen könnten, und so ein lineares, klares Bild von der 'Welt' entstehen würde, über das sie zu reden, das sie zu vereinnahmen, über das sie mit anderen zu kommunizieren imstande wäre.

Kurz, sie war gelähmt in allem, was sie tat, denn alles hing irgendwie mit der Aktivität in ihrem Kopf zusammen. Wollte sie morgens aufwachen und sich ihren zu diesem Zeitpunkt noch nicht näher festgelegten Tages-Beschäftigungen hingeben, so fragte schon eine Stimme, oder viele, zu welchem Zwecke und wann sie gedenken würde, diesen so wichtigen Akt eines jeden erfüllten Tages einzuleiten. Die Stimme, oder die Stimmen, zählten auf, was zu diesem Anlass alles getan werden und in welcher Reihenfolge man dies veranlassen müsse. Dabei widersprachen sie sich andauernd, so dass Mircella schon vor dem Aufwachen, und garantiert vor dem Aufstehen, dem physisch krank machenden Verlassen des schützenden Bettes, nicht mehr wusste, was sie anderes tun sollte, als den Stimmen, ihren Gedanken, die alles so ungeheuer verkomplizierten, dass man nicht leben wollte, zuzuhören. Noch im Schlaf überlegte sie sich das Für und Wider, der 'Welt' auf die eine oder andere Weise entgegenzutreten, Plexiglas schob sich über ihre Träume, analysierte sie, schon bevor sie wusste, dass sie geträumt hatte, bzw. sich an ihre Träume hätte erinnern können. Sie sah sich als foetal zusammengefaltetes warmes Wesen unter Decken, die bis auf den Boden reichten, ohne für sie einen Kontakt zur 'Aussenwelt', was man darunter auch immer verstand, herzustellen. Sie war ein kleiner schwacher Astralleib, der blutleer auf der Metaebene vor sich hin vibrierte, nicht wissend, wohin, in diesem Wassermannzeitalter.

Dieser Zustand sollte sich nicht ändern, bis sie den ersten Drink des Tages hatte.

Es war schon das Ritual des Trinkens. Sie trank ausschliesslich Wein. Roten, schweren Wein.

Da sie selten ass, erreichten Flavoide schnell ihr Herz und die aufgespalteten Alkoholmoleküle ihr Gehirn und die für sie reservierten Strassen, auf denen sie fröhlich bis in den Bauch bretterten. Ihr Blick, natürlicherweise durch den Druck des Alltags und der Metaebene verengt und nach innen gerichtet, weitete sich. Er umfasste zunächst ihr ganzes Gesichtsfeld und schliesslich, im Laufe des Trinkens, den gesamten Raum, in dem sie sich befand. Gegen Ende, kurz vor dem sicheren Delirium, ging er noch weiter und durchdrang, was immer er wollte. Nicht zuletzt dieses Umstands wegen fühlte sie sich gerade zu solchen Zeiten wie ein legaler Teil und Teilnehmer des Wassermannaeons.

Alkohol machte sie nicht nur glücklich, er gab ihr auch das, was sie am meisten benötigte in ihrem fehlenden Selbstwertgefühl unter der Tyrannei der Metaebene, er gab ihr Allmachtsphantasien. Er liess sie den Zustand, in dem alles machbar erscheint, nicht nur erahnen, sondern erleben, fernab von der menschlichen Spezies, frei von intervenierenden 'Energie-Feldern', was das auch wieder sein mag, und konkurrierenden Gedanken, eigener oder von anderen geschmiedet, um ihr das Leben noch schwerer zu machen, als es mit den vielen Stimmen in ihrem Kopf schon war.

Also trank Mircella. Sie sass auf ihrem Bett, Musik in ihr Ohr gestöpselt, und lächelte. Eine Welt, die nicht die 'Welt' war, entfaltete sich in ihr. Die Metaebene wurde schwächer, verblasste zunehmend, die Stimmen wurden leiser und leiser, bis nur noch eine einzige, nicht ganz klare, ihre eigene, mit Stimmbändern produzierte, übrig blieb. In diesem Augenblick spielte Sprache natürlich keine grosse Rolle mehr. Es ging um Bilder, um die massive Überflutung von visuellen Reizen, die ins Nervensystem nicht über den Weg der Sinnesorgane, mit Ausnahme der Ohren [wenn man vom oralen Zuführen des Alkohols absieht], gelangten, und zu handfesten Gefühlen, Gedanken, Dingen wurden, die, wenn Mircella Glück hatte, auch noch am nächsten Tag in irgendeiner Spalte ihres Bewusstseins in der Abteilung Gedächtnis aufzufinden waren. Dann konnten sie am folgenden Abend weiterverarbeitet, modifiziert oder auch nur sentimentalisiert werden. Derart erschuf sie sich ihr eigenes Reich, das nur durch das Tor des die Metaebene betäubenden Weins erreicht werden konnte. Ausgefeilte Meditationstechniken oder extremsportliche Betätigungen hätten ihr vielleicht ähnlichen Genuss bereitet, doch der Weg über den Alkohol war kürzer und bekannt. Dort zwei Bäume, dahinter ein Erdloch, an dessen Ende, so denn man sich besinnungslos hineinstürzt, zwei Zwerge warten und einen heim holen, heim ins Land, wo alles machbar scheint. Das war die bekannte Topographie, dort kannte Mircella ihren Weg.

Sie machte es möglich, jeden Tag aufs Neue, tauchte ein in die mannigfachen Möglichkeiten ihres Selbst und die der anderen, die sie anzapfen konnte. Sie machte sich unsichtbar vor Spiegeln in Mexiko und tauchte auf [manchmal nur als Hand] in vereisten Gebirgen vor übermüdeten journalistischen Trupps, die nicht wussten, wohin mit ihrer Energie und Zeit.

Da lag sie nun auf ihrem Bette, verfiel für nicht existente äussere Beobachter zunehmend und erblühte innerlich. Es war alles möglich.

Das Telefon klingelte. Es klingelte fünf mal, dann meldete sich der Anrufbeantworter in unangemessen freundlicher Tonlage. Mircella öffnete die Augen und hörte sich selbst zu. Gerade eben war sie noch nach Mexiko geflogen, oder war es Las Vegas, und jetzt musste sie pinkeln. Der in der Porzellanschüssel aufprallende Urinstrahl übertönte die Stimme des Anrufers. Mircella hätte nicht um alles in der Welt mit der 'Welt' just in diesem Moment Kontakt aufnehmen können. Lass ihn reden. Der Anrufer legte mit einem Bedauern in der Stimme auf. Mircella schluckte. Sie wurde sentimental. Vielleicht hätte sie doch nochmal mit ihm schlafen sollen, um die 'Welt' zufriedenzustellen. Scheissgesaufe. Die Metaebene riss sie aus ihren Träumereien. Es wäre schliesslich verdammt uncool gewesen, dem nachzugeben.

Mircella ging zurück ins Bett. Nichts ist wirklich wichtig, nichts ist würdevoll genug, es wirklich zu tun.